lunes, 23 de abril de 2007

Kapitel 3

ie las das Geschriebene. Sie las es noch einmal und noch einmal. Ihr Herzschlag pochte in den Ohren und ihre Gedanken rasten. Die Zeit der Dämmerung? Was war das? Und wer war Landomar? Und sie, sie selbst, sie, die sie nicht wusste, wer sie war, sie sollte diesem Landomar eine Nachricht überbringen? “Nimm die Route über die Berge, doch hüte Dich vor den Krähen!” - das war es, was sie tun sollte? Warum? Und wer hatte ihr diesen Zettel gegeben? Was bedeutete das alles? Brennend wünschte sie, sich an die Vergangenheit erinnern zu können. Doch sie konnte es nicht, sie konnte es nicht. Sie stand auf und schritt unruhig in der kleinen Hütte auf und ab. Sie sah aus dem Fenster hinaus und blickte auf die hohen, stolzen Berge, die sich vor ihr auftürmten. Graue, vom Regen noch nasse Felsen ragten steil in den Himmel auf, als ob sie allein die Idee verachten würden, dass ein sterbliches Wesen diese Höhen erklimmen könnte. Und selbst wenn sie es könnte, würde sie es denn wollen? Wer weiß, wer ihr diese Nachricht zugesteckt hatte. Vielleicht war es ein Lausbubenstreich gewesen, oder vielleicht war das, was auf dem Pergament stand, eine Lüge? Und sie würde es diesem Landomar sagen, er würde sich, in welcher Form auch immer, danach richten, es würde zu einem schlimmen Ende führen und sie trüge die Schuld? Doch so sehr sie über diese Möglichkeiten nachdachte, es gelang ihr nicht, daran zu glauben. Ob es eine versunkene Erinnerung in ihr war, die sie verschwommen wahrnehmen konnte, oder nur die schlichte, blinde Hoffnung darauf, dass sie eine Aufgabe und ein Ziel hätte – sie glaubte der Nachricht.

Wieder sah sie zu den Bergen auf. Kalte, doch regenfrische Luft wehte in ihre Nase, sie sog sie tief ein. Die aufgehende Sonne warf ein rötlich goldenes Licht auf die Steine und es schien ihr gar nicht mehr so unmöglich zu sein, diese Gipfel zu erreichen. Sie verstaute sorgfältig wieder ihre wenigen Habseligkeiten in ihren Taschen und trat aus der Hütte hinaus. Der alte Mann war dabei, seine Schafe zu melken. Seine buschigen weißen Haare schauten aus der Herde wollener Tiere heraus, als ob sie selbst zu einem Schaf gehörten. Auf die Lippen der jungen Frau, die sich selbst den Namen Senja gegeben hatte, stahl sich ein leises Lächeln. Sie trat zu dem Alten hin, bedankte sich noch einmal für seine Gastfreundschaft und meinte, sie wolle jetzt weiter. Mühsam richtete sich der Alte auf und sah sie langsam, etwas zweifelnd an. “Bist du sicher dass du da hoch willst?” fragte er. “Der Weg ist schwer und die Felsen mögen die Wanderer nicht.” Seine Worte ermutigten sie nicht. Doch sie hatte ihren Entschluss gefasst. Sie entgegnete, scheinbar frohen Mutes, es sei nicht das erste Mal dass sie die Berge überquerte. Es war ihm anzusehen dass er ihr nicht glaubte, doch sie versuchte, nicht darauf zu achten und machte sich auf den Weg. Sie spürte seinen mitleidigen Blick, als sie den Pfad entlang schritt. “Nimm nicht den Weg über die Felsbrücke, der lange Weg über das Gras ist sicherer.” rief er ihr hinterher. “Ich weiß.” gab sie zurück. Natürlich wusste sie es nicht. Sie hoffte, es gab nicht noch mehr Gefahren in diesen Bergen, vor denen er sie besser gewarnt hätte.

Als die Sonne den Himmel erklomm, wurde es wärmer. Fast war Senja versucht, den wollenen Umhang, den sie bei sich trug, fallen zu lassen um ohne ihn leichter zu wandern, doch es schien ihr nicht ratsam zu sein, das Wenige, das sie hatte, auch noch zu reduzieren. Gegen Mittag fand sie einige Pflanzen, von denen sie wusste, dass man ihre Wurzeln essen konnte und grub sie aus, um zumindest ein wenig Essen zu haben. Trinken konnte sie in den kalten Bergbächen, auf die sie immer wieder traf. Alles in allem fühlte sie sich gut, sie fühlte sich wichtig, denn sie trug eine Nachricht für Landomar mit sich. Sie stellte sich Landomar als einen prächtig gekleideten, gutaussehenden Ritter vor, der sie, nachdem er ihre Nachricht gelesen hätte, voller Dankbarkeit in seinem Schloss willkommen heißen würde, die Mühen ihrer Reise würdigend und auf ihre bescheidene Abwehr hin, sie habe doch nur ihre Pflicht getan, ihr nur noch mehr Ehren zukommen lassen würde. So in frohen Träumen weilend, wanderte Senja langsam, aber stetig, den Berg hinauf. Währenddessen wurden die Schatten länger, der Abend näherte sich. Der Himmel war heute den ganzen Tag tiefblau gewesen, es war, als habe der Regen von gestern alle Wolken fortgeweht. Senja schaute zum Horizont, doch nicht einmal ein kleines, weißes Wölkchen war zu sehen. Nur das reine Blau, das sich in der Ferne aufhellte und irgendwo mit dem Land verschmolz. Nein, das war nicht ganz richtig - in der Ferne, offenbar ganz weit oben, war ein kleiner schwarzer Fleck zu sehen. Sie fragte sich, was das wohl war. Es gab doch keine schwarzen Wolken am blauen Himmel, und ein Vogel konnte es auch nicht sein, dafür war es zu groß. Es sah aus, als habe sich jemand beim Feuermachen mit Ruß beschmiert. Sie stellte sich vor, wie diese Person dann, ohne den Ruß zu bemerken, Besuch empfing, der sie ganz merkwürdig ansah. Frohen Mutes stieg sie weiter bergan und begann, von den leckeren Pasteten und Erdbeertörtchen zu träumen, die sie an der Tafel von Ritter Landomar essen würde. Auch Rhabarberkuchen sah sie vor sich, luftig gebacken und so leicht wie diese Blätter, die da vor ihr auf dem Weg verweht wurden. Mehr Blätter wehten in einem Windstoß auf und Wind fuhr in ihre Haare. Es würde doch nicht jetzt, am Abend, noch schlechtes Wetter geben? Sie sah zum Himmel auf. Ihr Herz setzte aus und wie glühendes Eisen fuhr nacktes Entsetzen hinein! Pechschwarze Flügel durchwoben den Himmel, Schnäbel wie Dolchklingen kreischten ihren Hohn hinunter, Krallen zerfraßen die Luft, der Krähenschwarm verdunkelte das Licht. Von Angst zersetzt jagten ihre Beine den Hang hinauf, stolperten über Pflanzen, hetzten über Steine, flohen vor den schwarzen Flügelschlägen, vor dem höhnischen Kreischen, flogen in ein dunkles Loch hinein, in eine Höhle, in einen Hort. Sie kroch so tief sie konnte in die Höhle hinein und presste sich an die Wand. “Hüte dich vor den Krähen”, hallte eine Stimme in ihren Ohren wider. Sie wusste nicht, wem die Stimme gehörte, sie wusste auch nicht, ob das Krächzen vor der Höhle ihr galt, sie wusste auch nicht, warum die Krähen nicht in die Höhle hinein flogen. Schweißgebadet zitterte sie, eng an die kalte Höhlenwand geschmiegt. Es war ihr, als würde jedes einzelne Krächzen ihre Angst verlachen, sie verspotten. Doch langsam entfernte sich das Kreischen, wurde leiser, bis es schließlich verebbte. Immernoch zitternd saß sie da. Jetzt, wo sie in Gedanken noch einmal den Krähenschwarm vor sich sah, wurde ihr klar, dass er gar nicht so nah gewesen war wie es ihr geschienen hatte. Doch ihre Angst hatte einen anderen Eindruck erzeugt. Angst. Vor den Krähen. Bitter dachte sie, dass sie offenbar doch noch Erinnerungen in sich trug. Denn es war ganz offensichtlich nicht nur die Warnung auf dem Pergament gewesen, sie sie vor den Krähen hatte fliehen lassen. Sie kannte die Krähen, sie war ihnen schon einmal begegnet. So saß sie nun da, in der dunklen Höhle, und ihre Fröhlichkeit war verflogen. Sie traute sich nicht, die Höhle zu verlassen und wieder den hellen Pfad zu betreten, auf dem sie gesehen werden konnte. Sie fürchtete sich davor, ihrem Auftrag zu folgen. Sie ließ sich von der Schwärze, die sie umgab, einfangen, sank hinein in einen dunklen Ort der Einsamkeit und der Verzweiflung.

“Oooch, jo, die arme Kleine, die tut dem Dengeluck ja ganz arg leid, die haben die Krähen erschreckt, die bösen bösen Krähentierchen, joah..” ertönte eine spottende Stimme. Erschrocken fuhr Senja auf, stieß sich den Kopf an dem harten Fels, stieß einen Schmerzensschrei aus und rieb sich die Stirn. Hastig robbte sie in Richtung des Ausgangs, vor der Stimme fliehend, doch blieb wieder sitzen wo sie war, als sie an die Krähen dachte. “Hehe, jetzt weiß sie nich was sie machen soll, die Kleine, die Ärmste, weil sie hat Angst vor den Krähentierchen und auch vor dem Dengeluck, dem Üblen, dem Finstersten!” Bei diesen letzten beiden Worten wurde die sonst helle Stimme tiefer und ahmte eine Drohung nach. Perplex saß Senja da und wusste nicht, was sie denken sollte. Offenbar machte sich jemand über sie lustig. “Wer bist du?” rief sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme zitterte. “Ui, sie kann ja reden, die Verschreckte, die Ängstliche. Sie braucht aber gar keine Angst zu haben, der Dengeluck ist nämlich lieb, und fein, und nett, und tut gar nix...” Die Stimme näherte sich, zusammen mit einem leisen Tapsen. Senja wich zurück, zum Ausgang, es schien ihr draußen sicherer zu sein als hier drinnen mit diesem eigenartigen Wesen. “Hihi!” freute sich die Stimme. “Der Dengeluck macht besser Angst als schwarze Krähen. BUH!” Bei diesem plötzlichen Ruf zuckte Senja zusammen und schämte sich sogleich dafür. Das Wesen lachte laut auf und jubelte: “Uuuh, buuuuh, Angst hat sie vor dem Dengeluck, die kleine Menschin, sie hat Angst vor dem Dengeluck, hi!”. Wütend rief ihm Senja entgegen: “Ich habe überhaupt keine Angst vor dir, du.. du... du komisches Wesen!” und war sich aufgebracht darüber bewusst, dass ihre Stimme immer noch zitterte. “Nöö, nee, klar nich, natürlich hat sie keine Angst, sie is ja mutig, furrrchtlos. “Komisches Wesen” nennt sie den Dengeluck, oooh, da is er aber beleidigt jetzt, das findet er aber nich lieb, der Dengeluck.” kicherte die Stimme. Senja war durch ihr Zurückweichen am Ausgang der Höhle angekommen und richtete sich nun auf. Immer noch ängstlich, aber nun auch beleidigt wartete sie darauf, was wohl nun aus der Höhle heraus kommen mochte. Und als sie sah, was es war, ließ sie sich erstaunt auf einen Stein fallen und schaute verblüfft das Wesen an. Es war klein, so klein, dass es ihr vielleicht gerade bis zum Knie reichte. Aus einer seltsamen Komposition von Stofffetzen ragten moosgrüne Füße mit großen, knubbeligen Zehen heraus, moosgrüne Hände spielten mit einem Grashalm herum und in einem moosgrünen Kopf schauten riesige schwarze lachende Kugelaugen hinter einer wulstigen Nase hervor und wurden zum Teil von wirren dunkelgrünen Haaren bedeckt, die widerum von einem Blätterkranz gekrönt wurden. Das Wesen nahm spöttisch den Blätterkranz von seinem Kopf und machte eine Verbeugung. “Hi! Je, das ist der Dengeluck, zu Diensten der Verehrtesten, der gnädigsten Dame, der Huldvollsten! Oi oi, da guckt sie aber, die Kleine, hi, so hat sie sich den Dengeluck wohl nich vorgestellt, was?!” Senja wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Wesen, Dengeluck, wie es sich nannte, verspottete sie zwar in einem Fort, aber sie konnte ihm doch nicht böse sein. Diese großen runden Augen sahen sie so fröhlich an, dass sie es gar nicht geschafft hätte, wütend zurück zu schauen. Sie versuchte aber dennoch, ihre Würde und Ernsthaftigkeit zu bewahren: “Ich...ah... grüße dich, Dengeluck. Mein Name ist... Senja und... und ich bin dabei, diese Berge zu überqueren.” Schnell fügte sie noch hinzu: “Ach, und wenn du dich gerade auf meine Flucht vor den Krähen bezogst... berücksichtige... dass ich meine Gründe hatte, mich vor ihnen zurück zu ziehen, die ich dir aber leider nicht mitteilen kann.” Dengeluck prustete laut auf: “Oh, ja, das versteht der schon, der Dengeluck, das mit den Gründen, die sie ihm nich sagen will, das is klar, das hat sie sich gut überlegt, dass sie weglaufen will und in der Höhle vom Dengeluck warten bis die Krähentierchen wieder weg sind, klar, hi, hihi, nee nee, hihi...”. Es folgten weitere Kichersalven, die Senja klar machten, dass sie ihn nicht überzeugt hatte. “Du weißt ja nichts...” brummte sie. Seine schwarzen lachenden Augen schauten sie an, klug, wie ihr schien. “Die Kleine kommt jetzt mit dem Dengeluck mit, er hat nämlich auch Höhlen in die sie reinpasst, hat er, he, jo, hat er...” sagte er in entschiedenem Ton, warf seinen Blätterkranz achtlos fort und schritt forsch auf seinen kurzen Beinen über die Steine. “OH! Eine Krähe!” rief er plötzlich. Senja zuckte zusammen, riss ihren Blick zum Himmel und sah – nichts. “Hiii! Hihii! Hee, hiii!” lachte Dengeluck los, hüpfte auf und ab und freute sich offenbar, sie wieder erschreckt zu haben. “Du blöder...!” rief Senja. “Oi, Helden sind furchtlos, Kleine, der Dengeluck bringt ihr bei, wie man furchtlos ist, BUH!” rief er und fuhr mit den Händen in die Luft. Senja schaut ihn beleidigt an. “Ha, kannste sehen, sie ist nich erschreckt, die Ängstliche, hat er ihr schon was beigebracht, toller Dengeluck, bravo, Dengeluck, ja, hi!”, kicherte er und stapfte weiter. Senja war wütend, amüsiert, aber vor allem verwirrt und fragte sich, ob sie ihm wirklich folgen sollte in diese “Höhle, in die sie reinpasste”.

domingo, 15 de abril de 2007

Kapitel 2

ebel. Undurchdringlicher, alles verschluckender Nebel. Sie tastete sich zwei Schritte vorwärts und versuchte, das Grau um sich herum mit ihren Blicken zu durchdringen. Sie suchte etwas. Aber was? Unmöglich, irgend etwas zu erkennen. Der Nebel schien auf ihr zu liegen wie eine Decke.
Doch da, aus dem Nichts, tauchte eine Gestalt vor ihr auf – ein Mann? Nur schemenhaft nahm sie seine Umrisse wahr. Er hatte den Mund geöffnet, schien ihr etwas sagen zu wollen – doch kein Laut erreichte sie. Sie versuchte, zu ihm zu gelangen, wollte auf ihn zurennen – aber da verwandelte sich die Gestalt, löste sich in einzelne dunkle Flecken auf, die auf sie zugeflogen kamen: Ein Schwarm dunkler Vögel! Ohrenbetäubendes Krächzen durchbrach die Stille, während sie mit agressiven Flügelschlägen auf sie zurasten, bereit, ihr die Augen auszupicken… Sie stolperte rückwärts, strauchelte und fiel. Sie fiel ins Bodenlose. Der Nebel wurde dichter, verwandelte sich in dicke Wolle, die sie umschlang, an ihr emporrankte wie Kletterpflanzen, ihren Mund und ihre Nase verschlossen, ihr den Atem nahm... sie erstickte…
Schweißgebadet erwachte sie. Die Wunde an ihrem Hinterkopf pochte schmerzhaft. Sie hatte sich im Traum die kratzige Decke vor den Mund gepreßt. Mit offenen Augen starrte sie vor sich in die Dunkelheit. Das einzige Geräusch war der leicht pfeifende Atem des Mannes. Kalt war ihr nicht mehr, im Gegenteil. Ihr Gesicht fühlte sich unnatürlich warm an. Der Hunger hatte sich in ein flaues Gefühl in ihrem Magen verwandelt. Sie versuchte, die Eindrücke ihres seltsamen Traumes abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht, einfach wieder einzuschlafen. Auch jetzt war der Nebel noch da, doch er war in ihrem Inneren, in ihrem Kopf. Doch wo am Tag zuvor nur Platz für die Kälte und Ratlosigkeit gewesen war, begannen sich nun schemenhafte Gedanken im Kreis zu drehen wie ein wildes Tier in der Falle. Immer wieder die gleichen Fragen, auf die ihr Kopf statt Antworten nur diffuses, graues Nichts fand: Was war geschehen? War sie überfallen worden, oder einfach nur gestürzt? Wer war sie? Woher war sie gekommen, und wohin wollte sie gehen?
Obwohl ihre Haut glühte, fühlte sich ihr Inneres seltsam kalt an. Da war nichts, woran sie sich klammern konnte, kein Anhaltspunkt, kein Gesicht, kein Gefühl. Noch immer spürte sie weder Angst noch Verzeiflung. Vielmehr hatte sich eine tiefe Gleichgültigkeit in ihr breit gemacht, eine gähnende Leere. Beinahe wünschte sie, es sei anders. Jedes Gefühl, auch Hass, Trauer oder Furcht, war besser als diese Apathie, die sie antriebslos zurückließen.

Sie zwang sich, den fruchtlosen Strudel ihrer Gedanken zu durchbrechen und sich auf eine Frage zu konzentieren. Wie ging es weiter? Sie brauchte ein Ziel. Egal was, nur einen Plan, den sie verfolgen konnte, der vielleicht diese furchtbare Leere in ihrem Inneren vertreiben würde. Hier konnte sie nicht bleiben, so viel stand fest. Aber wohin? Sie versuchte, vernünftig zu überlegen. Essen, das brauchte sie. Und Essen gab es, wo es Menschen gab. Wo es Menschen gab, würde es vielleicht auch Antworten geben – Leute, die sie kannten… Sollte sie versuchen, nach ihrem vergessenen Leben zu suchen? Aber hatte das einen Sinn? Konnte man zu einem Leben zurückkehren, an das man sich nicht erinnerte? Überhaupt, wer wusste schon, ob es ein Leben war, in das sie zurückkehren wollte?
Sie hatte genug von diesen Fragen, deren Antworten sie nicht finden konnte. Und so konzentrierte sie sich ganz auf diesen einen Entschluss, sorgsam alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf vertreibend. Gleich am Morgen würde sie den Alten fragen, wo die nächste Stadt war. Wenn sie dort angekommen war, würde sie weitersehen. Und mit einem leichten Gefühl neu aufkeimenden Mutes im Herzen schlief sie wieder ein.
Am Morgen schlüpfte sie zurück in ihre nun wieder trockene Kleidung und nahm dankbar das Glas Schafsmilch und den Kanten Brot des weißbärtigen Mannes entgegen. „Siehst aus, als könntest du’s brauchen, Senja“, brummte er abwinkend auf ihren Dank hin. Während sie aß, machte er sich draußen mit seinen Schafen zu schaffen. Sie kaute langsam und ließ dabei einmal mehr ihre Gedanken kreisen. Dabei kam ihr ein plötzlicher Einfall: Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Fieberhaft begann sie, die Taschen ihrer Kleidung zu durchsuchen – vielleicht hatte sie ja etwas dabei gehabt, das ihr einen Anhaltspunkt geben würde?! Erst als sie sicher war, überall geschaut zu haben, nahm sie das kleine Häufchen, das sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, genauer in Anschein.
Ein kleines Klappmesser, ein Beutel mit intensiv riechenden Kräutern, ein in einen Lappen gewickeltes, aus Holz geschnitztes Amulett und – ihr Herzschlag beschleunigte sich – ein Stück zusammengefaltetes Pergament. Mit zitternder Hand nahm sie es und entfaltete es sorgfältig. In einer präzisen, engen Handschrift stand dort

Die Zeit der Dämmerung hat begonnen!
Landomar muss davon erfahren, und Du bist die einzige, die ihm davon berichten kann. Nimm die Route über die Berge, doch hüte Dich vor den Krähen!

lunes, 9 de abril de 2007

Kapitel 1

rau war es, und verschwommen. Sie schloss langsam die Augen und öffnete sie dann wieder. Das Bild wurde deutlicher. Umrisse ergaben sich, und Formen. Steine. Steine waren das da vor ihr. Graue Steine mit weißen Einschlüssen und dunklen Flecken. Die Flecken waren merkwürdig. Langsam mühte sie sich, den schweren Kopf zu heben. Verfilztes, blutverkrustetes Haar fiel vor ihre Augen. Sie ließ den Kopf wieder sinken. Etwas fehlte. Es war kalt. Kalt waren die Steine und kalt war der Boden, auf dem sie lag. Noch einmal hob sie den Kopf an und mit schweren, mühsamen Bewegungen richtete sie sich auf. Ihr Blick wanderte in die Umgebung. Sie saß neben einem schmalen Steinpfad. Direkt neben ihr fiel der Fels steil nach unten ab. Dahinter konnte sie düsteren Himmel sehen, über den vereinzelte Vögel zogen. Zu ihrer Linken und in ihrem Rücken waren die Berge, auf die der Pfad führte. Majestaetische Berge, schneegekrönte Berge. Etwas fehlte. Sie blickte auf die Steine. Die Flecken darauf waren Blutflecken. Und Blut war auch in ihren Haaren. Unsicher führte sie die Hand zu ihrem Kopf und fuhr langsam darüber. Ein stechender Schmerz ließ sie zusammenzucken. Sie hatte eine Verletzung am Hinterkopf. Vielleicht kam daher auch das Blut. Sie kauerte sich zusammen, versuchte, Wärme in sich zu speichern. Sie wusste nun auch, was fehlte. Sie hatte vergessen, warum sie verletzt war, sie wusste nicht, warum sie hier war. Ja, und sie wusste auch nicht, woher sie kam. Der Pfad und die Steine und die segelnden Vögel, die hohen Berge und der feindliche Himmel, das war alles, was die Welt ihr gab. Und das Blut in ihrem Haar. Mit kreisenden, fruchtlos suchenden Gedanken verweilte sie, wo sie war. Kälteschauer durchzogen sie. Es schien keinen sinnvollen Grund zu geben, etwas anderes zu tun als hier zu sitzen. Aber es gab auch keinen Grund, gerade dies zu tun. Nichts hatte einen Sinn. Ohne zu versuchen, sich über diese Entscheidung Rechenschaft zu geben, stand sie nach einiger Zeit dennoch auf und begann frierend, den Pfad hinauf zu steigen. Der Himmel hatte sich noch mehr verdüstert. Er sah unangenehm aus. Sie hoffte, irgendwo einen Unterschlupf finden zu können, falls es schlechtes Wetter geben sollte. Doch es war nur der kahle Berg an ihrer Seite, einzelne Felsbrocken waren hinderlich statt hilfreich und die Pflanzenwelt beschränkte sich auf karge Büsche und zähes Gras. Ein Wind kam auf, der ihr immer kräftiger in die Ohren blies und der erst einen sanften, dann einen immer heftigeren Regen mit sich brachte. Durchnässt stapfte sie weiter bergan. Dunkel hatte sie das Gefühl, mehr fühlen zu müssen. Angst oder Verzweiflung. Doch das war nicht so, sie hatte keine Angst. Sie wusste ja gar nicht was sie hätte verlieren können. So folgte sie dem Weg, ohne Gedanken, ohne Träume und ohne zu wissen, warum sie es tat. Nachdem der Pfad sie auf einer großen Kurve geleitet hatte, sah sie eine Gruppe Schafe, die sich neben einem Felsen dicht zusammendrängten und schlecht gelaunt blökten. Etwas weiter hinten stand eine kleine Holzhütte, aus deren Schornstein Rauch stieg. Sie ging darauf zu. Als sie vor der Tür stand, klopfte sie an. Die Tür öffnete sich und ein kleiner, weißbärtiger Mann mit faltigem Gesicht bedeutete ihr, herein zu kommen. "Du bist ja halb erfroren, Mädel." brummte er. Er gab ihr eine lange Kutte, die sie gegen ihre nasse Kleidung tauschte, wickelte sie in warme Decken und gab ihr heißen Tee zu trinken. Sie fragte sich, ob er sie kannte. "So, jetzt wärm dich erst mal auf.", sagte er. "Wie heißt du denn, Mädel?", fragte er. Er kannte sie also nicht. Mit vor Kälte immernoch zitterndem Lippen begann sie: "Ich... ich heiße...". Sie wusste nicht, wie sie hieß. Sie sagte den ersten Namen, der ihr einfiel. "Senja." - "Ah, Senjamoha, wie die Königin.". "Ja..", antwortete sie. Sie hoffte, er würde nicht noch weitere Fragen stellen. Er tat es nicht. Er meinte, es sei Zeit, schlafen zu gehen, legte sich selbst Decken auf dem Boden zurecht und sagte ihr, sie solle im Bett schlafen. Ohne sich gegen die Bevorzugung zu wehren und ohne den Mut, um Essen zu bitten, legte sie sich ins Bett und war auch bald schon eingeschlafen.