miércoles, 13 de junio de 2007

Kapitel 9

angsam, ganz langsam kniete Senja nieder um die Runen näher anzusehen. Sie befühlte sie mit der Hand. Sie waren tatsächlich da, sie waren wirklich, vor ihr in die Erde gezeichnet. Und es waren dieselben Zeichen, die sie auch auf der Brücke gesehen hatte. Eine Traurigkeit stieg in Senja auf, machte sich langsam breiter und nahm Platz in ihrem Inneren ein. Sogar ein Eichhörnchen, ein kleines, unscheinbaren Wesen, wusste mehr als sie, die sie eine so wichtige Nachricht überbringen sollte. Sie sah zu dem Eichhörnchen. Das hatte in seinem rasanten Rennen innegehalten, es stand nun bewegungslos vor Senja und schaute mit großen Augen zu ihr. “Ich kann das doch nicht lesen, du seltsames Wesen...” sagte Senja leise. “Ich habe doch mein Gedächtnis verloren...” Sie wusste nicht, ob das Eichhörnchen sie verstand. Aber zumindest hatte es ja wohl auch das Wort “Landomar” verstanden. Bei diesem Gedanken kam ihr eine Idee: “Hör, Eichhörnchen.” sagte sie mit einer kleinen Hoffnung. “Weißt du, wer Landomar ist? Kannst du mir etwas über ihn sagen? Kannst du sein Gesicht zeichnen, damit ich ihn wiedererkenne, wenn ich ihn sehe?” Das Eichhörnchen reagierte nicht. Ohne sich zu rühren, saß es, wo es gesessen hatte und nur seine Ohren zuckten leicht in die Richtungen der Waldgeräusche. “Du verstehst mich nicht? Oder du kennst Landomar nicht? Kannst du mir wenigstens sagen, wo ich Menschen finden kann? Oder Essen?”, hakte Senja nach. Noch immer rührte sich das Tierchen nicht. Senja schien es fast, als sei der Blick der schwarzen Knopfaugen nun tierische als je zuvor. Es war wohl nur ein Tier, das aus irgendeinem Grund einen Moment seltsamer Erleuchtung gehabt hatte. Oder es war einen Moment lang verhext gewesen, um Senja zu verwirren. Oder Senja hatte sich das alles eingebildet und die Runen hatten schon da vor ihr gestanden und das Eichhörnchen hatte sie gar nicht gezeichnet. Wie idiotisch war das überhaupt, sich einzubilden, ein Eichhörnchen könnte Runen zeichnen. Die nicht einmal sie selbst, die sie doch von edler Geburt war, verstehen konnte. Eine Wut stieg in ihr auf, auf dieses so harmlos scheinende Eichhörnchen, das sie so unschuldig anschaute. Das sich in Wirklichkeit über sie lustig machte, das sie verlachte! “Hau doch einfach ab, du schwachsinniges Biest!”, schrie sie plötzlich auf und erschrak im selben Moment über sich selbst. Das Eichhörnchen war, genauso erschrocken, blitzartig einige Meter weit zurückgewichen und sah nun wieder Senja an, mit noch größeren Augen als zuvor, wie es schien. Senja schämte sich ein wenig für ihren Ausbruch, aber es fühlte sich gut an, diese Wut herauszulassen. Mit etwas weniger hitziger Stimme sagte sie: “Verdammt, ich kann doch auch nichts dafür, oder? Ich weiß nicht was das alles soll, kapierst du das? Ich weiß nicht einmal wo ich jetzt hin soll, was ich in diesem Wald tun soll. Über die Berge soll ich gehen, hieß es. Das hab ich getan. Und jetzt? Wo geh ich jetzt hin? Und warum seid ihr überhaupt alle so komisch? Der Dengeluck, was ist das überhaupt? Und du, wer bist du? Ach, du antwortest mir ja doch nicht. Geh doch in dein Nest, geh deine Kinder ausbrüten oder wie das bei euch Eichhörnchen funktioniert. Ich geh jetzt weiter. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wohin.” Sie stand auf und ging einige Schritte den Waldpfad entlang. Sie hörte den eigenen dumpfen Schritt auf dem erdigen, nadelbedeckten Boden. Sie drehte sich noch einmal um und sah zu dem Eichhörnchen, das ihr hinterherblickte. “Schau mich nicht so an.”, meinte sie. “Immerhin habe ich den Mut und gehe weiter, ja? Obwohl der Dengeluck mich für einen Feigling hielt. Das bin ich nicht. Ich bin Senja.” In dem Moment fiel ihr ein, dass sie höchstwahrscheinlich nicht Senja hieß. “Oder irgendwer. Ich bin irgendwer, ich bin die Botin, die Gesandte, und ich habe Mut, merk dir das.” Wieder ging sie einige Schritte weiter. Die Baumwipfel schienen sich dunkel über ihr zu schließen, als sie weiter in diesen Wald hineintrat. Und noch einmal drehte sie sich um: “Du schaust mich ja immer noch an. Glaubst du, ich gehe jetzt wieder zurück, in die Berge oder auf die andere Seite? Meinst du, ich hätte Angst vor diesem Wald? Die hab ich nicht, hörst du. Ich habe keine Angst.” Langsam drehte sie sich von dem Eichhörnchen weg und schritt weiter den Pfad entlang.

Nein, sie hatte keine Angst, sie hatte keine Angst. Die Bilder von dem Mann in dem Kaputzenmantel, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hatten, die erschreckten sie schon gar nicht mehr, das war ja nur ein Traum gewesen. Zögernd, langsam, führte sie ihre Hand über die Wange. Ihr Herzschlag schien leicht zu zittern, als sie das tat. Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum. Wahrscheinlich war diese Narbe schon vorher da gewesen, sie hatte sie nur nicht bemerkt. So wie ja auch die Runen, die das Eichhörnchen gezeichnet hatte, eigentlich schon vorher da gewesen waren. Sie würde jetzt einfach diesen Wald durchqueren und irgendwo ein Dorf finden in dem sie nach Landomar fragen konnte. Und Landomar würde ein freundlicher alter Herr sein, der ihre Botschaft empfangen würde und damit das Schicksal seines kleinen Dörfchens verändern könnte. Es war nichts von Bedeutung, es gab keinen Grund, mächtige Feinde zu haben. Und das mit ihrem Gedächtnisverlust, das konnte ja passieren. Wenn man hart mit dem Kopf auf einen Stein fällt, dann kann man schon einmal für ein paar Tage das Gedächtnis verlieren.

Eigentlich war doch das viel größere Problem, dass sie Hunger hatte. Und wo könnte sie in diesem Wald wohl etwas zu essen finden? Mit einem ironischen Grinsen machte sie sich bewusst, dass, falls sie irgendwelche Fähigkeiten als Jägerin hatte, sich an diese sowieso nicht erinnern könnte. Also blieb ihr nur, Pflanzen zu sammeln. Während des Gehens hielt sie Ausschau nach irgendwelchem Gewächs, das ihr bekannt war. Außer einigen wenigen Beeren, die lange nicht ausreichten um ihren Hunger zu stillen, fand sie aber nichts. So wanderte sie eine ganze Zeitlang still vor sich hin und versuchte, das Wort Angst nicht in ihr Gedächtnis vordringen zu lassen...

Durch die Baumwipfel hindurch sah sie die Sonne über den Himmel wandern. Die Sonne... Das war ein Wagen, der von irgendwem gelenkt wurde... Und feurige Rösser waren davor gespannt. Als Kind hatte sie immer versucht, die Rösser zu sehen, hatte im gleißenden Sonnenlicht ihre weißen Mähnen erahnt und auf das Trommeln ihrer Hufe gelauscht. Und der Mann, der sie lenkte, er hatte einen langen Bart und funkelnde Augen, und seine lange Peitsche knallte durch die Luft, wenn er seine Pferde antrieb.

Senja blieb stehen. Das war eine Erinnerung gewesen! Das war ganz eindeutig eine Erinnerung gewesen! Dieses Bild von dem Sonnenwagen stand ganz deutlich vor ihr und es stammte aus ihrer Kindheit. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wer ihr diese Geschichte erzählt hatte, doch es gelang ihr nicht. Es kamen keine weiteren Erinnerungen. Vielleicht kamen ja nur dann Erinnerungen, wenn sie nicht danach suchte. Sie begann wieder, weiter zu gehen. Wenn ihre Erinnerungen wiederkamen, dann gab es vielleicht noch Hoffnung? Wenn sie wüsste, wer sie war, und was ihr Auftrag war, war Landomar war und wer ihre Feinde waren, dann gab es doch die Möglichkeit, diesen Auftrag auszuführen. Wenn... vielleicht...


So langsam spürte sie, dass ihr Durst größer war als ihr Hunger. Der Wald war nicht trocken, viele Bäume und Steine waren mit Moos bewachsen, also musste es doch auch irgendwo Wasser geben. Senja dachte nach. Der Pfad, auf dem sie wanderte, führte sie über einen Hügel, wie es schien. Und hier oben würde es sicher kein Wasser geben. Sie müsste also nach unten, den Hügel herab. Dazu müsste sie den Pfad verlassen. Aber es konnte ja eigentlich nichts passieren, wenn sie sich nur nach unten bewegte, dann würde sie danach einfach wieder nach oben gehen und bei dem Pfad ankommen. Und schließlich konnte sie ohne Wasser garantiert nicht weit kommen. Sie zögerte noch einen kurzen Moment und betrat dann den Wald neben dem Pfad.

Ohne den Pfad war es schwieriger, vorwärts zu kommen. Außer den hohen Bäumen war der Wald mit vielen Sträuchern bewachsen, sie sich ihr in den Weg zu stellen schienen. Aber es ging ja abwärts und sie hatte die Hoffnung auf Wasser, die sie voran trieb. Schon bald waren ihre Haare und Kleider voll mit Nadeln, die sie von Bäumen abgestreift hatte. Als sie schon fast bereute, diesen schwierigen Weg auf sich genommen zu haben, merkte sie, dass er Boden etwas ebener wurde, und sie meinte auch, er würde feuchter. Und tatsächlich kam sie bald zu einem kleinen Rinnsal, das zwischen zwei Hügeln verlief. Freudig kniete Senja neben dem Wasser nieder, schöpfte mit den Händen das kühle Nass und trank es in gierigen Schlucken. Köstlich schmeckte es, und es rann erfrischend ihre Kehle hinab. Als sie genug davon hatte, setzte sie sich bequem auf einen Stein und sah dem gluckernden Bächlein zu, wie es so unbeschwert dahin floss. Das Bächlein machte sich keine Gedanken über Aufträge, über Runen oder noch seltsamere Dinge. Es floss da einfach, und es war schon immer da geflossen und es würde es auch immer tun. So wie der Dengeluck auch immer in seinen Bergen sein würde. Aber ihr selbst war dieses glückliche Schicksal nicht zugedacht. Sie hatte einen Auftrag und sie hatte dunkle Feinde, die sie verfolgten. Zumindest glaubte sie das. Aber hier, an diesem Bächlein, schienen alle Feinde weit entfernt zu sein. Nur das leise plätschernde Wasser war wichtig, und die Sonne, die von großen fliegenden Pferden gezogen wurde. Leise begann Senja zu summen. Es war eine Melodie, die sie offensichtlich kannte. Sie war leicht und schnell, doch von einer seltsamen Traurigkeit durchzogen. Wieder und wieder summte Senja die Töne vor sich hin, während sie an diesem Bach saß und ihre Gedanken schweifen ließ. Langsam begann sie zu singen:


Im Eichenwald, vor Lenviks Thron

Da fuhren die Wagen dahin.

Kein Lösegeld, kein Ritterlohn

Niemals durft er sie wiederhol´n.

Kein Lösegeld, kein Ritterlohn

Niemals durft er sie wiederhol´n.


Und ist sie auch dort, in finsterer Nacht

Einsam in die Lüfte verbannt

So ist es er selbst, der die Tat vollbracht

Der sie zur Einsamen gemacht.

So ist es er selbst, der die Tat vollbracht

Der sie zur Einsamen gemacht.


Sie wiederholte die Verse noch einmal. Offenbar fehlte der Anfang des Liedes. Aber mehr als diese Zeilen fiel ihr nicht ein. Es war wohl eine alte Geschichte, die von irgendeinem König und seiner Liebsten handelte, die ihm ein Schurke geraubt hatte.

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