Senja blinzelte. Was war denn das? Doch bevor sie anfangen konnte, nachzudenken, sah sie, wie ein runzliger Finger sich ihrem Gesicht näherte. Er beschrieb vor ihren Augen einen Kreis. Er bewegte sich zu ihrem Kinn, berührte es kurz. Er näherte sich ihrer Stirn. Er fuhr langsam über die Stirn hinweg. Senja war das unangenehm. Sie drehte den Kopf zur Seite. Das Augenpaar, das so dicht vor ihr war, verdunkelte sich. Unwillig drehte Senja den Kopf wieder in die ursprüngliche Position. Was waren denn das bloß für Augen! Die Augen wurden wieder heller und der Finger beendete die Bewegung, die er begonnen hatte. Nun kam auch die zweite Hand dazu. Aber sie hielt etwas fest. Es war ein kleiner, grober Behälter aus Holz. Senja fragte sich, was er wohl beinhalten mochte. Sie erfuhr es schnell, denn ein Wasserschwall wurde über ihren Kopf geschüttet. Sie schrie erschrocken auf und prustete und rief: „Was tut Ihr da?“. Die alte Frau lachte vergnügt und ein weiteres Lachen kam aus dem hinteren Teil der Hütte. „Hetapo najan! Hetapo anihilota vegunji seha mai!“, rief die Frau beruhigend. Sie entfernte eine nasse Strähne aus Senjas Gesicht und drückte sie wieder zurück auf das Bett. Nun, das war ja sehr freundlich! Was hatte sie nur vor? Was tat sie da? Nun hatte die Frau den Wasserbehälter weggestellt und einen anderen Behälter in die Hand genommen. Auch dieser war aus Holz, doch etwas kleiner und etwas feiner gearbeitet. Kleine Figürchen waren auf die Seiten geschnitzt und die Frau schien ihn mit mehr Ehrfurcht zu behandeln. „Tana hepawma, Fidoha.“, sagte sie ernsthaft und blickte Senja in die Augen. Senja blickte verständnislos zurück. „ Tana hepawma, ai ko mela fusine.“, sagte die Frau. Sie schien auf etwas zu warten. Wollte sie eine Antwort hören? Wie konnte sie denn erwarten, dass sie, Senja, so ein Kauderwelsch verstehen sollte? Doch Senja wollte nicht unhöflich sein. „Ich verstehe Eure Sprache nicht, wisst Ihr?“, meinte sie, mit einem etwas ironischen Unterton. Wahrscheinlich verstand auch die Frau ihre Sprache nicht, sodass jeglicher Versuch einer Verständigung wohl sowieso einigermaßen sinnlos war. Doch die Frau sagte energisch: „Ne ka wam asu atopi. Sensa ne toha mal dabe na Zenha asi kum, kewama Tana, anontum kasechi nan! Tana hepawma!“ Fast schon ungehalten blickte das Augenpaar sie an. Was wollte diese Frau von ihr? Unentwegt sprach sie zu ihr. Senja wiederholte noch einmal: „Ich verstehe Euch nicht.“ Die Augen vor ihr verdunkelten sich wieder gefährlich. Senja erschrak etwas. Sie sprach noch einmal: „Verehrte Dame, ich weiß nicht was ihr sagt, Himmel, ich kann diese seltsame Sprache nicht sprechen. Ihr versteht doch auch nicht was ich sage, ist Euch nicht klar dass mir das auch so geht?“. Zwei Augenbrauen vor ihr zogen sich zusammen. Doch die Augen wurden etwas heller. Ganz, ganz deutlich sagte die alte Frau: „Ta-na he-paw-ma.“ War es ein Gruß? Eine Anweisung? Oder sollte sie es vielleicht wiederholen? Senja versuchte es: „Dana hebawma.“, sagte sie. Es klang irgendwie anders, wie sie es sagte, das hörte sie selbst. „Ta-na he-paw-ma .“, sprach die Frau wieder eindringlich. Senja unterdrückte einen Seufzer und versuchte es noch einmal: „Tana hebawma.“. Die Frau schien zufrieden zu sein, denn sie nickte und kleine Lachfältchen erschienen auf ihrem Gesicht. Sie begann zu summen und währenddessen mit einer Hand vor Senjas Gesicht herumzuwuseln. Immerhin berührte sie diesmal das Gesicht nicht. Und das mit dem Wasser hatte Senja ja auch schon hinter sich. Was konnte also noch Schlimmes kommen? Immer schneller wurden die Wirbel der Hand vor ihrem Gesicht, immer lauter und intensiver das Summen der tiefen Stimme. Die Hand drehte sich, sie wurde zur Faust geschlossen und öffnete sich wieder, die Finger fuhren an ihrem Gesicht vorbei wie die Speichen eines Rades, zwei Finger hüpften auf und ab, als seien sie Hasen und die flache Hand fuhr an ihr vorbei wie ein Vogel. Durch die tanzenden Schatten dunkler Finger fiel auf einmal ein feiner, gelber Staub auf ihr Gesicht. Er fiel in ihre Ohren, setzte sich auf ihre Augenlider, er drang in die Nasenlöcher ein und Senja musste niesen. Da brach das Summen ab. Senja wollte sich den Staub aus dem Gesicht wischen, doch sie wurde daran gehindert. Die Frau hielt ihre Arme fest. Senja gab den Versuch auf, die Arme zum Gesicht zu bewegen und der Griff der Frau verschwand. Vorsichtig öffnete Senjas die staubbedeckten Augen. Vor ihr stand strahlend die alte Frau. Senja hob fragend die Augenbrauen, bereute dies jedoch sofort, da durch die Bewegung Staub in ihr Auge fiel. Aber anscheinend war die Frau nun zufrieden. Durfte sie sich nun aufsetzen? Sie versuchte es. Und diesmal war es ihr erlaubt. Sie setzte sich auf das Bett, das offenbar aus einem Stapel Zweige bestand. Durch kleine Staubkaskaden hindurch, die immer wieder vor ihren Wimpern hinunterfielen, blickte sie auf die alte Frau. Diese lächelte immernoch und schaute Senja glücklich an. Dann schien ihr etwas einzufallen. Sie fasste sich lachend an den Kopf, bückte sich und hob einen Topf auf. Es war der dampfende Topf, den Senja schon vorher wahrgenommen hatte. Nun bemerkte sie auch, dass es gar angenehm aus ihm roch. Und als die Frau ihr den Topf entgegenstreckte, als Senja ihn nahm und entdeckte, dass sich eine Suppe darin befand, die kleine, kugelrunde Fleischbällchen und Möhrenstückchen enhielt, da hätte sie der Frau auch den kältesten Wasserschwall und den seltsamsten Staub verziehen. Da kein Löffel in dem Topf war, begann Senja, die Suppe direkt aus dem Topf zu schlürfen. Die Frau schien nichts dagegen zu haben. Den gelben Staub völlig ignorierend, der in die Suppe fiel, schluckte Senja die warme, gewürzte Suppenbrühe, sie genoss den Geschmack des Fleisches und der Zwiebeln, zerkaute genüsslich einige harte Möhrenstückchen. Erst als sie den Topf ganz geleert hatte, schaute sie auf, um der Frau zu danken. Doch da stand nicht mehr nur die alte Frau vor ihr. Die kleine Hütte war gefüllt mit Leuten, die sie neugierig ansahen. Erschrocken blickte Senja auf. Ein Mann sagte: „Fidoha hodule peto.“, und er lächelte dabei. „Fidoha hodule peto.“ sprach auch ein anderer. Ein kleines Mädchen wiederholte dieselben Worte. Und alle lächelten. Wie seltsam waren diese Menschen. Doch sie schienen freundlich zu sein. Senja beschloss, auch etwas zu sagen. „Danke.“, sagte sie. Das war auf jeden Fall schon mal gut. Aber eigentlich war es ja ganz egal was sie sagte, diese Leute verstanden sie sowieso nicht. Senja lächelte. Staub fiel von ihren Mundwinkeln. „Das ist alles sehr komisch hier, wisst Ihr. Aber ihr seid sehr freundlich. Würde ich eure Sprache sprechen, würde ich euch um mehr Suppe bitten, die war nämlich sehr lecker..“. Sie wollte noch weiter reden, doch da hatte ihr die alte Frau schon den Topf aus der Hand genommen. Sie trug ihn zu der Feuerstelle an der Hüttenwand, über der ein großer Topf hing, und schöpfte eine dampfende Flüssigkeit aus dem großen Topf in den kleinen. Mit einer neuen Portion wohlriechender Suppe kam sie zurück und hielt Senja strahlend den Topf hin. Senja ergriff ihn nicht. Entgeistert starrte sie die Frau an. „Versteht ihr denn was ich sage?“, fragte sie endlich. Die Frau lächelte und hielt ihr den Topf hin. Senja lächelte nicht. Was war denn da nun schon wieder? Aber dann gewann doch der Hunger über die Verwunderung und mit einem tiefen Atemzug nahm Senja den Topf in die Hand und stürzte sich auf die zweite Portion Suppe.
domingo, 16 de diciembre de 2007
jueves, 15 de noviembre de 2007
Kapitel 11
"Jaha Fidoha Rakepja hedo." - Lichter, tanzende Lichter, die mal hierhin, mal dorthin geworfen wurden. Gerüche, fremde Gerüche, vielleicht nach Gewürzen oder Fellen von Tieren, die Senja nie gesehen hat. Alles tanzte vor ihr, in einem großen unzusammenhängenden Traum, den man meist nur träumt wenn man hohes Fieber hat und die Wirklichkeit mit der Traumwelt zu einer breiigen Masse zusammenfließt. Doch war das ein Traum? - Senja öffnete die Augen sehr langsam und vorsichtig zu einem schmalen Schlitz, um nicht zu zeigen, dass sie wach geworden war. Nein, das war kein Traum: Sie lag auf einem Bett, dass offenbar in einer Holzhütte stand. Um sie herum war es dunkel und sie konnte nur Weniges erkennen. Flammen, die von einem Feuer an der anderen Zimmerwand kamen, ließen tanzende Schatten über die Wände wandern. Es standen einige Gegenstände und Möbel im Raum, die sie wegen des schwachen Lichtscheins kaum erkennen konnte. Neben ihrem Bett dampfte etwas. - Um mehr zu sehen, öffnete sie ihre Augen ganz und erschreckte leicht, denn vor ihrer Lagerstatt stand eine Frau. Sie war nicht mehr ganz jung und ihr Gesicht war voller Falten, die ihr ein sehr ausdrucksstarkes und wohlwollendes Aussehen gaben. Lachfalten umspielten ihre Augen und Wangen. "Jakola Fidoha hodule peto", sprach die Frau wieder, deren Worte sie eben noch in ihren Traum eingebaut hatte. Senja zuckte zusammen. Denn beim letzten Wort "peto" leuchteten die Augen der Frau für einen winzigen Moment auf und tauchten Senjas Gesicht in einen türkisen Schein.
viernes, 14 de septiembre de 2007
Kapitel 10
rgendwann stand Senja auf, nahm noch einmal einige tiefe Schlucke des erfrischenden Wassers und schlug dann die Richtung ein, aus der sie gekommen war. In ihrem Kopf hörte sie das Lied weiterhallen. Eine dunkle, rauchige Frauenstimme sang die Strophen, wieder und wieder. Senja bemitleidete die Entführte. Sie sah sie vor sich, eine schlanke, schöne Dame im Seidenkleid, wie sie in ihrem düsteren steinernen Turmverlies aus dem Fenster starrte und in verzweifelter Hoffnungslosigkeit den Horizont nach Rettung absuchte. Doch die einzigen Wesen waren die pechschwarzen Krähen, die die Festung umkreisten und mit heiserem Gekrächz ihre Hilflosigkeit verspotteten. Beim kleinsten Geräusch würde die junge Frau zusammenzucken und zitternd darauf warten, dass der grobschlächtige Bursche mit finsterem Gesicht in den Raum gestürmt kam, der sie ihren Lieben so gewaltsam entrissen hatte. Doch er würde nicht kommen. Er kam nie, genausowenig, wie die Retter am Horizont erschienen. Eine Frau mit mürrischem Gesicht und kratziger, grober Leinenkleidung würde ihr das Essen bringen. Doch sprechen würde sie nicht mit ihr. Sie sprach nie. Fragen perlten an ihr ab wie Wasser an gefettetem Leder, und geäußerte Bedürfnisse bewirkten eine kaum merkliche Neigung des Gesichts. An guten Tagen würde Senja eine mitleidige Grimasse auf dem kantigen Gesicht geschenkt bekommen…
Ein Ast schlug Senja ins Gesicht, doch dies war nicht der Grund, weshalb sie so aprupt stehenblieb. Wieso um alles in der Welt taten ihre Gedanken so, als sei es sie selbst, von der dieses Lied handelte??? Geschichten dieser Art gab es unzählige, jeder schlechte Barde kannte mindestens ein Dutzend davon! Sogar der alte Erwen hatte mal etwas in der Art gegrölt, als er es mit dem Met einmal wieder übertrieben hatte, daran erinnerte sie sich ganz genau! – Sie erinnerte sich? Woran erinnerte sie sich? Wer war Erwen? Was hatte er gegrölt? Das bärtige, grauhaarige Gesicht mit rot erhitzten Wangen, das sie eben noch mit blauen Augen angezwinkert hatte, verschwand so plötzlich aus ihrem inneren Blick, wie es gekommen war. Was es zurückließ, war ein Gefühl der Verwirrung. Langsam ging Senja weiter. Erwen… Barden… der Turm mit den Krähen… Hatte ihr die Phantasie einen Streich gespielt? Hatten Einsamkeit und der Hunger sie schon so weit gebracht, dass sie verrückt wurde und anfing, sich Dinge einzubilden? Kein Mensch mit seinem Verstand am rechten Ort sah runenschreibende Eichhörnchen oder glaubte an Narben, die durch einen Traum entstanden! Sie, Senja, gefangen in einem krähenumkreisten Turm? Wie absurd!
Du weißt gar nicht, ob du überhaupt Senja heißt. Du läufst durch die Wildnis mit nichts als einem Stück Pergament, auf dem eine wage formulierte Aufgabe steht. Und du fühlst dich als Retterin der Welt, nimmst diesen Zettel als Anlass, über gefährliche Felsen zu klettern, beinahe vom Blitz erschlagen oder von Krähen zerhackt zu werden und läufst mutterseelenalleine durch einen düsteren Wald, in dem du verhungern wirst, wenn dich nicht irgendwelche wilden Raubtiere vorher finden. Dabei weißt du weder, wer Landomar ist, noch, wo du ihn finden sollst. Und du findest die Vorstellung, in einem Verlies gefangen zu sein, absurd? Wenn das absurd ist, wie nennst du dann das, was du im Moment tust?
Senja hasste diese innere Stimme, die so penetrant immer recht haben musste. Was konnte sie denn dafür, dass alles so undurchschaubar war und niemand es für nötig befand, ihr etwas anderes als rätselhafte Hinweise zu geben – der geheimnisvolle Zettelschreiber nicht und der Dengeluck auch nicht. Hätte sie die Runen des Eichhörnchens lesen können, bestimmt wären es wieder irgendwelche geheimnisvollen Andeutungen gewesen. Diesen Erwen… sie hatte sein Gesicht so lebendig vor sich gesehen! Senja war sich sicher, dass zumindest er tatsächlich ein Mensch war, den sie kannte. Doch was half ihr diese Erinnerung? Ein alter Mann, der betrunken Lieder vor sich hin grölte… was hatte das mit ihrer Aufgabe und Landomar zu tun? Vermutlich ebenso wenig wie der feurige Himmelswagen. Aber er war ein weiteres Zeichen, dass ihr Gedächtnis nicht ganz verloren war. Aber was war mit der gefangenen Frau, von der ein Lied sprach? Sie hatte die rauen Felsquader der Turmwand, das spitz geschwungene Fenser und die glänzenden Federn der Krähen wie eine Erinnerung vor Augen gehabt. Und wenn sie an die mürrische Dienerin dachte, kam ihr deren herber Geruch nach Schweiß und billiger Seife in die Nase.
„Ich war gefangen“, sagte sie leise, um sich bewusst zu werden, was sie da dachte. „Aber wie bin ich entkommen?“ Die dumpfen Waldgeräusche gaben keine Antwort. Auch ihr Kopf fühlte sich auf einmal leer an, ausgelaugt. Es war wie jedes Mal, wenn sie bewusst versuchte, nach Erinnerungen zu greifen. Mit einem Seufzen gab sie es auf. Doch der kleine Hoffnungsschimmer in ihr war wieder ein wenig gewachsen.
Während sie versucht hatte, ihre Gedanken zu ordnen, war Senja beständig weitergegangen. Jetzt schaute sie sich um und bemerkte, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. War sie wirklich in die gleiche Richtung zurückgegangen? Bergauf lag der Weg – aber sie war doch schon ganz oben auf einem Hügel. Den Pfad sah sie jedoch nicht. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie begann zu rennen, kreuz und quer. Hier irgendwo musste er doch sein, vielleicht war er nur durch Büsche verborgen. Dort, an dem Baum war sie doch vorhin vorbeigekommen, bestimmt würde sie ihn dort finden – aber als sie ankam, war da kein Weg. Sie musste zurück zum Bach, und es erneut von dort versuchen. Doch in welche Richtung lag er? Beim Umherirren auf dem Hügel hatte sie jegliche Orientierung verloren. Nur nicht in Panik verfallen. Sie musste ganz ruhig nachdenken und schauen, von wo sie gekommen war. Waren dort nicht ganz viele Äste geknickt und das Laub aufgewirbelt? Vielleicht war sie von dort gekommen. Etwas tun war besser, als stehenzubleiben und so ging Senja in einer Richtung den Hügel hinunter, kämpfte sich abermals durch Büsche und tief hängende Äste, blieb an Dornen hängen und zerkratzte sich die Arme an den Nadeln. Doch schon bevor sie ganz unten angekommen war, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Vor ihr breitete sich ein schlammig-schmutziger Tümpel aus. Der modrige Waldgeruch schien sich zu ihm hin zu verdichten. Süßlicher Fäulnisgeruch legte sich auf Senjas Lungen und beschwerte das Atmen. Von einem plötzlichen unerklärlichen Grauen erfüllt drehte sie sich um und hetzte zurück, den Berg hinauf, weg von dem Wasser, in dessen schwarze Tiefen düstere Gefahren lauerten! Senja rannte, bis jeder Atemzug einen stechenden Schmerz in der Brust verursachte und die Beine unter ihrem Körper vor Schwäche wegzuknicken drohten. Entkräftet ließ sie sich auf einen umgestürzen Baumstamm sinken und rang nach Luft. Mit geschlossenen Augen lauschte sie ihrem rasenden Herzschlag, der sich nur langsam beruhigte. Ihr war nun schon richtig übel vor Hunger. Doch ihr fehlte die Kraft, sich etwas zu überlegen. Ihr fehlte sogar die Kraft, noch Angst zu haben. Sie saß einfach nur da, inmitten eines grünen Labyrints, und dachte nichts.
Sie spürte etwas Weiches an ihrer Hand. Etwas Weiches und Warmes. Es schmiegte sich daran, mit einem leichten Zittern. Dann etwas Rauhes, Feuchtes. Es kitzelte ein wenig in ihrer Handfläche. Eher unbeteiligt als neugierig öffnete Senja die Augen. Zwei schwarze, glänzende Knopfaugen schauten aus ihrer Handfläche zurück. „Da bist du ja wieder.“, murmelte Senja zu dem kleinen Eichhörnchen. „Siehst du, ich bin weitergegangen. Du bist ein besserer Waldbewohner als ich. Hast mich gefunden, obwohl ich den Weg verloren habe… Aber Angst habe ich keine, wie ich dir gesagt habe. Doch was willst du hier bei mir? Wozu hast du mich gesucht? Was zu essen kannst du mir ja doch nicht bringen. Und ich bin zu schwach, um nochmal aufzustehen. Das war’s dann wohl. Landomar muss alleine schauen, wie er zurecht kommt. Ich kann ihm nicht mehr helfen.“ Die schwarzen Augen schauten unverändert. Nur der lange, buschige Schwanz des Eichhörnchens strich langsam über Senjas Arm, hin und her. Das Gefühl war angenehm, als würde eine wohlige Wärme von dem Punkt ausgehen, an dem das Tier sie berührte. Wie Energie floß sie durch Senjas Glieder und auf einmal schien es ihr nicht mehr ganz so unmöglich, noch einmal weiterzugehen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, war sie aufgestanden, während das Eichhörnchen mit einem behenden Sprung vor ihr auf dem Boden landete. Die Fellbüschel an seinen Ohren zuckten aufgeregt und es begann, vor Senja über den bemoosten Boden zu huschen. Wie in Trance trottete diese hinter dem Tier her. Warum sie das tat, wusste sie nicht. Doch es schien genausowenig Sinn zu haben, auf dem Baumstamm sitzen zu bleiben. Offensichtlich hatte dieses braune Wesen etwas mit ihr vor und wollte sie irgendwo hinführen. Immer wieder vergewisserte es sich mit einem Blick seiner schwarzen Knopfaugen, dass Senja ihm noch folgte. Weshalb das Tier sie nicht schon am Morgen wohin auch immer geleitet hatte, wußte Senja nicht. Sie rätselte auch nicht weiter darüber. Denn das war nur ein weiteres Detail in einer Reihe unerklärlicher Vorkommnisse – und wahrscheinlich würde sie es nie erfahren.
miércoles, 13 de junio de 2007
Kapitel 9
Nein, sie hatte keine Angst, sie hatte keine Angst. Die Bilder von dem Mann in dem Kaputzenmantel, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hatten, die erschreckten sie schon gar nicht mehr, das war ja nur ein Traum gewesen. Zögernd, langsam, führte sie ihre Hand über die Wange. Ihr Herzschlag schien leicht zu zittern, als sie das tat. Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum. Wahrscheinlich war diese Narbe schon vorher da gewesen, sie hatte sie nur nicht bemerkt. So wie ja auch die Runen, die das Eichhörnchen gezeichnet hatte, eigentlich schon vorher da gewesen waren. Sie würde jetzt einfach diesen Wald durchqueren und irgendwo ein Dorf finden in dem sie nach Landomar fragen konnte. Und Landomar würde ein freundlicher alter Herr sein, der ihre Botschaft empfangen würde und damit das Schicksal seines kleinen Dörfchens verändern könnte. Es war nichts von Bedeutung, es gab keinen Grund, mächtige Feinde zu haben. Und das mit ihrem Gedächtnisverlust, das konnte ja passieren. Wenn man hart mit dem Kopf auf einen Stein fällt, dann kann man schon einmal für ein paar Tage das Gedächtnis verlieren.
Eigentlich war doch das viel größere Problem, dass sie Hunger hatte. Und wo könnte sie in diesem Wald wohl etwas zu essen finden? Mit einem ironischen Grinsen machte sie sich bewusst, dass, falls sie irgendwelche Fähigkeiten als Jägerin hatte, sich an diese sowieso nicht erinnern könnte. Also blieb ihr nur, Pflanzen zu sammeln. Während des Gehens hielt sie Ausschau nach irgendwelchem Gewächs, das ihr bekannt war. Außer einigen wenigen Beeren, die lange nicht ausreichten um ihren Hunger zu stillen, fand sie aber nichts. So wanderte sie eine ganze Zeitlang still vor sich hin und versuchte, das Wort Angst nicht in ihr Gedächtnis vordringen zu lassen...
Durch die Baumwipfel hindurch sah sie die Sonne über den Himmel wandern. Die Sonne... Das war ein Wagen, der von irgendwem gelenkt wurde... Und feurige Rösser waren davor gespannt. Als Kind hatte sie immer versucht, die Rösser zu sehen, hatte im gleißenden Sonnenlicht ihre weißen Mähnen erahnt und auf das Trommeln ihrer Hufe gelauscht. Und der Mann, der sie lenkte, er hatte einen langen Bart und funkelnde Augen, und seine lange Peitsche knallte durch die Luft, wenn er seine Pferde antrieb.
Senja blieb stehen. Das war eine Erinnerung gewesen! Das war ganz eindeutig eine Erinnerung gewesen! Dieses Bild von dem Sonnenwagen stand ganz deutlich vor ihr und es stammte aus ihrer Kindheit. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wer ihr diese Geschichte erzählt hatte, doch es gelang ihr nicht. Es kamen keine weiteren Erinnerungen. Vielleicht kamen ja nur dann Erinnerungen, wenn sie nicht danach suchte. Sie begann wieder, weiter zu gehen. Wenn ihre Erinnerungen wiederkamen, dann gab es vielleicht noch Hoffnung? Wenn sie wüsste, wer sie war, und was ihr Auftrag war, war Landomar war und wer ihre Feinde waren, dann gab es doch die Möglichkeit, diesen Auftrag auszuführen. Wenn... vielleicht...
So langsam spürte sie, dass ihr Durst größer war als ihr Hunger. Der Wald war nicht trocken, viele Bäume und Steine waren mit Moos bewachsen, also musste es doch auch irgendwo Wasser geben. Senja dachte nach. Der Pfad, auf dem sie wanderte, führte sie über einen Hügel, wie es schien. Und hier oben würde es sicher kein Wasser geben. Sie müsste also nach unten, den Hügel herab. Dazu müsste sie den Pfad verlassen. Aber es konnte ja eigentlich nichts passieren, wenn sie sich nur nach unten bewegte, dann würde sie danach einfach wieder nach oben gehen und bei dem Pfad ankommen. Und schließlich konnte sie ohne Wasser garantiert nicht weit kommen. Sie zögerte noch einen kurzen Moment und betrat dann den Wald neben dem Pfad.
Ohne den Pfad war es schwieriger, vorwärts zu kommen. Außer den hohen Bäumen war der Wald mit vielen Sträuchern bewachsen, sie sich ihr in den Weg zu stellen schienen. Aber es ging ja abwärts und sie hatte die Hoffnung auf Wasser, die sie voran trieb. Schon bald waren ihre Haare und Kleider voll mit Nadeln, die sie von Bäumen abgestreift hatte. Als sie schon fast bereute, diesen schwierigen Weg auf sich genommen zu haben, merkte sie, dass er Boden etwas ebener wurde, und sie meinte auch, er würde feuchter. Und tatsächlich kam sie bald zu einem kleinen Rinnsal, das zwischen zwei Hügeln verlief. Freudig kniete Senja neben dem Wasser nieder, schöpfte mit den Händen das kühle Nass und trank es in gierigen Schlucken. Köstlich schmeckte es, und es rann erfrischend ihre Kehle hinab. Als sie genug davon hatte, setzte sie sich bequem auf einen Stein und sah dem gluckernden Bächlein zu, wie es so unbeschwert dahin floss. Das Bächlein machte sich keine Gedanken über Aufträge, über Runen oder noch seltsamere Dinge. Es floss da einfach, und es war schon immer da geflossen und es würde es auch immer tun. So wie der Dengeluck auch immer in seinen Bergen sein würde. Aber ihr selbst war dieses glückliche Schicksal nicht zugedacht. Sie hatte einen Auftrag und sie hatte dunkle Feinde, die sie verfolgten. Zumindest glaubte sie das. Aber hier, an diesem Bächlein, schienen alle Feinde weit entfernt zu sein. Nur das leise plätschernde Wasser war wichtig, und die Sonne, die von großen fliegenden Pferden gezogen wurde. Leise begann Senja zu summen. Es war eine Melodie, die sie offensichtlich kannte. Sie war leicht und schnell, doch von einer seltsamen Traurigkeit durchzogen. Wieder und wieder summte Senja die Töne vor sich hin, während sie an diesem Bach saß und ihre Gedanken schweifen ließ. Langsam begann sie zu singen:
Im Eichenwald, vor Lenviks Thron
Da fuhren die Wagen dahin.
Kein Lösegeld, kein Ritterlohn
Niemals durft er sie wiederhol´n.
Kein Lösegeld, kein Ritterlohn
Niemals durft er sie wiederhol´n.
Und ist sie auch dort, in finsterer Nacht
Einsam in die Lüfte verbannt
So ist es er selbst, der die Tat vollbracht
Der sie zur Einsamen gemacht.
So ist es er selbst, der die Tat vollbracht
Der sie zur Einsamen gemacht.
Sie wiederholte die Verse noch einmal. Offenbar fehlte der Anfang des Liedes. Aber mehr als diese Zeilen fiel ihr nicht ein. Es war wohl eine alte Geschichte, die von irgendeinem König und seiner Liebsten handelte, die ihm ein Schurke geraubt hatte.
domingo, 20 de mayo de 2007
Kapitel 8
hr Magen schien in einen tiefen Abgrund abzusacken, während ihr Herz panisch zu rasen begann. Ihr Verstand weigerte sich, zu glauben was sie spürte. Wieder und wieder betastete sie ihre Wange, so als hoffe sie, die Narbe würde verschwinden, wenn sie ihr Gesicht nur genau genug untersuchte. Es waren nicht die Spuren einer frischen Wunde, die sie da spürte. Es war die Narbe, die bleibt, nachdem die Wunde längst verheilt ist. Welche Magie war hier im Spiel? Wie war das möglich? Sie hatte also nicht geträumt – aber wenn das letzte Nacht kein Albtraum gewesen war – was war es dann? Gehetzt blickte sie um sich, darauf gefasst, irgendwo den Mann in der grauen Kutte zu sehen, rote Augen, die sich in ihre bohrten, direkt in ihr Herz hinein. Doch sie stand alleine auf dem Bergpfad in der Sonne, und das einzige Geräusch neben dem Plätschern des Baches und dem Zwitschern der Vögel war das Pochen ihres eigenen Herzes, das in ihren Ohren wiederhallte. Senja setzte sich auf einen Stein neben dem Bach und versuchte, sich zu beruhigen, einen klaren Gedanken zu fassen. Mehr als je zuvor wünschte sie, weiter in ihr Gedächtnis blicken zu können. Was hatte das alles zu bedeuten? Offenbar hatte sie Feinde, die über die ohnehin schon vielzähligen Gefahren ihres Weges hinausgingen. Leute, die verhindern wollten, dass sie Landomar ihre Botschaft überbrachte. Hatte Senja am Anfang noch daran gezweifelt, ob diese Nachricht echt war, ob es die richtige Entscheidung war, sie zu überbringen – ihr Albtraum, der kein Traum gewesen war, gab ihr nun endgültig Gewissheit: Diese Aufgabe, die sie erfüllen musste, war wirklich wichtig! Die schreckliche Überquerung der Felsbrücke kam ihr in den Sinn – Botin, Gesandte hatte der Dengeluck sie genannt. Auch der Dengeluck wusste von ihrem Auftrag, dessen war sie sich sicher. Warum nur hatte er ihr nicht mehr gesagt? Warum war er der Frage ausgewichen, was er über sie wusste? Nun, dafür war es jetzt zu spät. Der Dengeluck war wohl längst wieder zu Hause bei seiner Hongela und aß Erdbeerkuchen…
Ein Gefühl tiefer Verlassenheit breitete sich in ihr aus und schien einen Schatten über die strahlende Sonne zu legen. Ohne ein anderes Wesen, das ihr Mut zusprach und Ratschläge gab, überkam sie die Mutlosigkeit. Wie sollte sie, eine Frau, die nichts besaß, noch nicht einmal ihre eigene Erinnerung, gegen die vielen dunklen Mächte bestehen? War nicht alles sinnlos und ihr Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Doch da regte sich ein anderer Teil in ihr. Eine Senja, die trotzig das Kinn vorstreckte und nicht zuließ, dass die Wellen der Verzweiflung über ihr zusammenschlugen. Schließlich war sie – von wem auch immer – dafür ausgewählt worden, die Nachricht zu überbringen! Sie war doch schon so weit gekommen und hatte sogar die Felsbrücke überquert. - Ohne den Dengeluck hättest du das nie geschafft, wisperte eine verzagte Stimme in ihr, doch die neue, mutige Senja brachte sie zum Schweigen. Die Aufgabe, die man ihr auferlegt hatte, war einfach zu wichtig, um jetzt den Kopf in den Sand zu stecken! Entschlossen stand Senja auf und richtete den Blick nach vorn. In diesem alten Wald ... du wirst ihm nicht entgehen ... diesmal nicht. Ruhig und unschuldig lag das Meer an Bäumen vor ihr. Welche Gefahren lauerten in ihrem dunklen Schatten? Nun, sie würde es herausfinden… Festen Schrittes setzte sie ihren Weg fort.
Die Sonne hatte den Zenit gerade überschritten, als sie am Rande des Waldes ankam. Sie zögerte einen Moment. Bemooste Baumstämme standen dicht an dicht, und nur dumpfes Dämmerlicht durchdrang das dichte Blätterdach. Der Pfad führte mitten hinein in dieses grüne Labyrinth und verschwand nach einigen Metern zwischen der Vegetation. Senja blickte ein letztes Mal auf den blauen, freien Himmel, atmete tief durch und betrat dann den Wald. Sofort spürte sie eine neue Anspannung, die sie nicht gehabt hatte, als sie noch unter freiem Himmel voranschritt. Ihre Ohren lauschten auf bedrohliche Geräusche und ihre Augen versuchten, das fahle Dämmerlicht auf der Suche nach gefährlichen Wesen zu durchdringen. In der Nähe des Pfades hörte sie weiterhin das Plätschern des Baches, der ihren Weg wie ein treuer Gefährte begleitete. Abgesehen von dem Krächzen eines Raben und einer Maus, die laut raschelnd im Gebüsch verschwand und Senja erschrocken zusammenzucken ließen, lag der Wald jedoch ruhig da und behelligte die junge Frau nicht, die immer weiter in sein Inneres vordrang. Ein moosiger, schwerer Geruch lag in der Luft, die sich kühl und feucht auf die Haut legte. Senja verlor jedes Gefühl der Zeit, wie sie so durch die fremdartige Dämmerwelt schritt. Einmal machte sie Halt, um einige Nüsse und Beeren zu essen, die sie erkannt hatte. Ihre anfangs gespannte Aufmerksamkeit wich nach und nach der Leere, die die Gleichförmigkeit des Wanderns mit sich bringt.
Erst als das Dämmerlicht langsam aber unaufhaltsam der Dunkelheit zu weichen begann, machte Senja sich wieder Gedanken. Sie brauchte einen geschützten Ort, wo sie die Nacht verbringen konnte. Wie sehr vermisste sie jetzt die Fündigkeit des Dengeluck mit seinen komfortablen Gästehöhlen! Auf eine Höhle konnte sie hier mitten im Wald wohl kaum hoffen. Aber vielleicht einen Unterschlupf im Gehölz… Suchend um sich blickend verlangsamte Senja ihren Schritt, doch weit und breit konnte sie nichts Geeignetes entdecken. Abseits des Weges wären ihre Chancen wohl größer, doch sie wagte nicht, ihn zu verlassen aus Angst, sich im Gebüsch zu verirren. Immer schneller legte sich die Dunkelheit über den Wald und immer verzweifelter durchforstete Senjas Blick ihre Umgebung, die sie mittlerweile nur noch mühsam erkennen konnte. Als sie gerade versuchte, sich auf eine Nacht im Freien einzustellen, entdeckte sie ihn. Ein Baum, größer und älter wohl als die anderen, ragte er hoch neben dem Pfad auf, sein Wipfel verborgen im Grau-Schwarz der hereinbrechenden Nacht. Selbst drei Mann hätten Mühe, den wuchtigen Stamm zu umfassen, dessen rauhe wulstige Rinde an die unzähligen Falten erinnerte, die das Schicksal in die Gesichter der Alten gegraben hat. Wie ineinander verschlungene Riesenschlangen breitete sich das mächtige Wurzelwerk in alle Richtungen aus – und schien an einer Stelle eine Art Dach zu bilden. Von Erleichterung und andächtigem Staunen für dieses Wunder der Natur erfüllt näherte sich Senja vorsichtig dieser Öffnung und kroch hinein. Hatte sie zunächst eine Art kleinen Unterschlupf erwartet, so hatte sie sich getäuscht: Es war wirklich eine Höhle, die sich ein ganzes Stück fortsetzte und unter den Baumstamm führte, wo sie einen gewölbten Raum bildete, den sie nur noch schwach im schwindenden Licht ausmachen konnte. Senja rollte sich in einem Eck zusammen, doch trotz der Müdigkeit in ihren Gliedern viel es ihr schwer, Schlaf zu finden. Zum einen nagte der Hunger in ihr, doch das war nicht der Hauptgrund. Sie hatte Angst. Angst davor, einzuschlafen, Angst davor, wieder in diesen Traum zu geraten, der keiner war, Angst vor den unbegreiflichen Dingen, die mit ihr geschehen könnten.
jueves, 17 de mayo de 2007
Kapitel 7
"... he, he, es ist es alles gut, sie hat nur von den gemeinen Krähen geträumt, hat sie! Sie muss aufwachen!" Senja öffnet die Augen, den sorgenvollen Blick des Dengelucks erhaschend, der über sie gebeugt stand und sie rüttelte. "Was hat Senja, dass sie an so einem Morgen schlechte Träume bekommt? Hehe, hier, wo es doch so gemütlich ist, hier in der luxeriösen Gästehöhle des Dengeluck, hihi." Der Dengeluck hatte sich wieder von ihr abgewandt, begann die Glut des Feuers vom letzten Abend zusammenzuschieben, um sie durch blasen neu anzufachen. Senja blickte sich um: Sie saß noch immer in der Höhle, die aber bei weitem nicht mehr so dunkel wirkte wie am letzten Abend. Die eben aufgegangene Sonne flutete direkt auf ihre Lagerstatt, fühlte sich angenehm warm an auf ihren Gliedern, die noch leicht schlotterten von ihrem Albtraum. War es wirklich ein Traum, es war doch alles so echt, dieser Wald, der Geruch, der Magier... "Sie muss kommen, sich stärken, vom Schrecken der Nacht erholen, muss sie, jaja." Senja blickte sich um. Die letzten Reste der Schinkenvorräte lagen vor ihnen auf einem Ledertuch. "Es ist nicht mehr weit, dann muss der Dengeluck umkehren, wird dem Berg nicht verlassen, neenee. Der Berg brauch den Dengeluck." - Der Mut, den die warme Morgensonne Senja eben noch gemacht hatte, begann sie bereits wieder zu verlassen, beim Gedanken daran, dass ihr kleiner mutiger Führer bald von ihr gehen und sie wieder vollkommen auf sich gestellt sein würde, ohne überhaupt zu wissen, wohin sie sich wenden musste, was ihre Aufgabe war. Landomar... die Herrschaft von Landomar wird enden ... die Wunde an ihrem Hinterkopf begann wieder schwach zu pulsieren beim Gedanken an den Namen den sie jetzt schon zweimal vernahm, einmal auf einem Stück Pergament in ihrer Tasche und einmal in ihrem Albtraum - wenn es denn ein Traum war.
Nach dem Frühstück kletterten beide aus der Höhle und folgten dem Weg, der sie gestern von der steilen Felsbrücke bei strömendem Regen direkt in die Gästehöhle des Dengeluck geführt hatte. Senja blickte sich um. Der Tag war klar, so als habe das Gewitter die Luft vollkommen rein gewaschen. Der Weg ging von hier an steil abwärts und schlängelte sich den Berg hinab. Senja sah bis auf wenige kleinere schroffe Felsgipfel direkt vor sich auf ein riesiges Waldgebiet, das sich bis zum Horizont zu erstrecken schien. "Sag Dengeluck, weißt du von menschlichen Siedlungen auf dieser Seite der Berge?" fragte sie ihren Führer, der mit forschem Schritt bereits vorausgeeilt war und den sie nur mit Mühe eingeholt hatte. "Menschen? Dengeluck nicht oft trifft auf Menschen, neenee, Senja war seit langem die erste die mehr Angst hatte vor ihm als er vor ihnen. Menschen mögen keine Wesen wie den Dengeluck, müssen alles beherrschen. Der Dengeluck will nicht beherrscht werden, will für sich Leben, in Ruhe bei Hongela, hehe, die so gut sorgt für ihn. Deswegen wird er ihr jetzt auch lebwohl sagen. Senja muss sich vorsehen, viele dunklen Gestalten irren umher, viel gefährlicher als laute Krähen. Einige kommen in die Berge, aber der Dengeluck kennt viele Verstecke, weiß wie er ihnen entkommt. Senja muss lernen zu sich verstecken, wenn sie ihr Ziel erreichen will." - "Mein Ziel? Woher weißt du von meinem Ziel?" fragte Senja da, war sie doch davon ausgegangen, dass der Dengeluck nicht viel von den Menschen weiß, wie er ihr eben noch versichert hatte. "Die Ziele der Menschen liegen am Ende des Weges, Menschen auf den Wegen sind meistens gut, hehe, aber sie soll sich in Acht nehmen, wenn sie vom Wege abkommt, denn statt ihrem Ziel sie findet vielleicht dunklere Dinge." Damit kam der Dengeluck auf sie zu, umarmte sie (das heißt er umarmte ihren rechten Unterschenkel), drehte sich um und begann den Berg hinaufzulaufen. "Hab dank für alles und grüße Hongela von mir!" schaffte es Senja gerade noch zu rufen, bevor er hinter der nächsten Biegung verschwunden war.
lunes, 7 de mayo de 2007
Kapitel 6
chon als sie die erste Steigung erklomm, spürte sie, dass hier auf dieser hohen Felsbrücke der Bergwind kälter und rauer pfiff als auf dem sicheren Pfad. Zerzauste Haare wehten ihr vor die Augen und erschwerten ihre Sicht. Unsicher tasteten ihre Hände auf den Felsen, um Halt zu finden, und sie begannen im Wind zu frieren. Vor sich sah sie den Dengeluck eilig und behend klettern. Als er ihr schon weit voraus war, sah er zurück und bemerkte, dass sie sehr langsam nachkam. Er kletterte ein Stück zurück und rief ihr zu: “Ho, keine Angst haben, Senja, der Weg ist gut, er lässt dich nicht fallen, he, nein, komm nur, Vertrauen sollst du haben zu den Steinen, sie sind dir besser gesonnen als die schwarzen Wolken über dir, sind sie.”. Doch Senja konnte nicht so schnell klettern wie das grüne Bergwesen und sie wollte es auch nicht versuchen, denn der Abgrund unter ihr gähnte wie ein großer Schlund und sie spürte die gefährliche Anziehung der Tiefe. Als sie versehentlich einen Stein lostrat, der nach unten fiel, sah sie ihm unwillkürlich nach und hielt die Luft an als sie beobachtete, wie lange er fiel, bis er sich schließlich, nach einer Ewigkeit, im Dunkel der Schlucht verlor.
Die Brücke wurde wieder ebener und Senja musste nicht mehr klettern, sondern konnte auf zwei Beinen gehen. Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen, während Windböen an ihr rüttelten und eine Handbreit neben ihr schon der Abgrund klaffte. Unter sich sah sie, weit entfernt wie ein vager Traum, den großen Fluss, wie er weiß und wild duch das dunkle Tal stürzte. Er füllte den ganzen Grund aus, nur wenige grüne Flecken waren an seinen Ufern zu sehen. Senja blickte nach vorne und die andere Seite der Brücke schien noch immer unerreichbar weit entfernt zu sein. Doch zu ihrer Rechten, hoch über ihr, bäumten sich die tiefschwarzen Wolken auf, unbeugsam und bedrohlich. Plötzlich ließ ein Gedanken sie zusammen fahren. Sie blieb stehen. “Dengeluck, hör!” rief sie gegen den Wind an. “Und wenn die Krähen kommen?”. “Dann laufen wir davon! Hi! Ho! Komm weiter, furchtsame Heldin!” schrie er zurück. Doch seine Stimme klang nicht fröhlich. Er hatte wohl schon denselben Gedanken gehabt. Noch nervöser als vorher fühlte sie sich, als sie weiterschritt. Wieder kam eine Steigung, die sie heraufklettern mussten. Und wieder war der Dengeluck schneller als sie, stieg gewandt die grauen Felsen empor. Als sich auch Senja bis nach oben gekämpft hatte, blieb sie dort schwer atmend auf einem Stein sitzen. Sie war auf dem höchsten Punkt der Brücke angekommen, gleich schon würde es wieder nach unten gehen. Keuchend sah sie zu den Wolken auf. Sie verdunkelten den Himmel und verursachten ein seltsames Spiel aus intensivem Licht und schattendem Schwarz, das über die Felsen wanderte. Auch die Brücke zu ihren Füßen war in dieses eigenartige Licht getaucht. In ihrer Betrachtung verloren, entdeckte sie plötzlich etwas Eigenartiges auf einem Stein, das ihr trotz seiner Fremdartigkeit vertraut vorkam. Es waren Zeichungen, Striche, Formationen, die irgend jemand in den schwarzen Fels gegraben hatte. Eine dunkle Erinnerung zerrte an ihr, erreichte beinah die Oberfläche ihres Gedächtnisses, riss sich fast frei. Doch so sehr sich die junge Frau auch bemühte, sie erreichte die Erinnerung nicht, und diese blieb heiß ersehnt, doch verloren, in den Tiefen des Denkens verhangen. Senja konnte sich nicht losreißen von dem Anblick der hellen Striche im Gestein, die so intensiv zu ihr zu sprechen schienen ohne dass sie ihre Sprache verstehen konnte. Erst ein Arm, der an ihrem zerrte und eine wegen dem dröhnenden Wind schreiende Stimme rissen sie aus ihren Gedanken: “He! Ho! will sie auf die Krähen warten, hier? Runen, von grauen Händen im Schatten geschrieben, gemeißelt, sollen die Botin nicht aufhalten. Weiter, Gesandte, weiter, eh die Wolken brechen!” Der Dengeluck stand neben ihr, der Wind peitschte ihm die dunkelgrünen Haare ins Gesicht und seine schwarzen Augen blickten sie voller Besorgnis an. Senja starrte zurück. “Kannst du sie lesen, die Striche, kannst du sie lesen, Dengeluck?”, schrie sie, ohne auf die Aufforderung zu achten. “Nein, kann er nicht, nein, der Dengeluck! Und wenn die Menschin es einmal konnte, dann hat sie es vergessen, verloren, verweht. Weiter, weiter, ho, komm weiter!” Und er drehte sich um und begann, den Weg herunter zu steigen. Senja starrte ihm nach, unfähig, sich über den Gedanken Klarheit zu verschaffen, der in ihr aufkam. “Was weißt du?”, rief sie plötzlich, in den beginnenden Regen hinein, der auf sie fiel. “Was weißt du über mich, wer bist du, warum hilfst du mir, was soll das alles?” Doch er hörte sie nicht oder wollte sie nicht hören. Er kletterte weiter, während der Regen auf die Runen fiel und sie vor ihren Augen verschwammen. Ihr wurde klar, dass sie weitergehen musste, dass das Gewitter nun über ihnen war. Noch einmal heftete sich ihr Blick auf die Zeichnungen im Gestein und sie versuchte, das Bild in ihr Gedächtnis zu graben. Dann stand sie auf und setzte widerwillig ihren Weg fort. Die Steine wurden rutschig im Regen und es war schwieriger als zuvor, einen sicheren Halt zu finden. Mehrmals glitten ihre Füße aus und mit klopfendem Herzen musste sie sie neu auf den Fels setzen. Der Himmel wurde immer dunkler, der Wind riss immer stärker an ihr und versuchte, sie in die Tiefe zu schleudern. Der Dengeluck blieb nun näher bei ihr. Er half ihr, einen sicheren Weg zu finden und rief ihr: “Hoi, hoppla, ja!”, “Joi, gut so!” und andere Ermutigungen zu. Senja wünschte, sie hätte nicht so lange bei den Runen gesessen. Sie wünschte, sie hätte diese Felsbrücke nie betreten oder wäre überhaupt nicht der Nachricht auf dem Pergament gefolgt. Doch schon nach kurzer Zeit hörte sie auf, überhaupt etwas zu denken und konzentrierte sich allein darauf, nicht abzustürzen. Der Himmel begann, Blitze auf die Berge zu schleudern. Der Donner rollte über die Gipfel, der kalte Regen peitschte auf die verzweifelten Wanderer ein. Senja konnte kaum noch die Stimme des Dengelucks hören, wenn er ihr etwas zurief und ihre klammen Finger fanden nur noch schwer Halt auf den harten Felsen. Plötzlich zuckten die beiden Kletternden zusammen, denn ein ohrenbetäubender Donnerschlag brach auf sie nieder und sie sahen, wie ein gleißender Blitz in den höchsten Punkt der Brücke einschlug - dorthin, wo die Runen standen. Senja meinte zu sehen, wie der Fels für einen Moment rot aufglühte, doch es war so kurz, dass sie sich nicht sicher war, das tatsächlich gesehen zu haben. Doch trotz des Blitzeinschlags blieb die Felsbrücke fest und hielt die Wanderer. Senja blickte durch den Regenschleier vor ihren Augen und war froh, nicht mehr dort zu stehen, wo sie gerade diesen furchtbaren Blitz gesehen hatte. Sie stieg weiter. Bald hatte sie jedes Gefühl für Zeit verloren. Ihre Welt beschränkte sich auf den schmalen Fels und den jähen Abgrund, den peitschenden Regen und den reißenden Wind, die Dunkelheit und das plötzliche Aufleuchten der Blitze und ihren Weggefährten, den Dengeluck.
Kaum konnte sie es glauben, als ihr Fuß auf einmal schlammigen Boden betrat. Sie hatten es offenbar geschafft, sie hatten die Brücke überquert. Doch der Dengeluck trieb weiter zur Eile an, er begann, den rutschigen erdigen Pfad emporzusteigen, der vor ihnen lag. Senja folgte ihm. Auch wenn nun keine Schlucht mehr unter ihnen gähnte, waren doch immer noch das Donnergrollen, das Himmelswasser und die schlagenden Blitze um sie. Doch es dauerte nicht lange, da verließ der Dengeluck den Pfad und kletterte über Felsbrocken bis zu einer Höhle. Sie war so klein, dass die beiden nur gerade eben so Platz darin fanden, doch Senja schien sie ein Königspalast zu sein. Kein Regen trommelte mehr auf sie nieder, sie waren vom Wind geschützt und sahen nun erschöpft und gebannt dem Schauspiel zu, das sich ihren Augen bot. Sie konnten auf die schmale Felsbrücke sehen, die sich bei jedem Blitzschlag bizarr von dem dunklen Abgrund abhob. Je nachdem, woher das Licht eines Blitzes kam, schien die Brücke sich zu bewegen, schien fast zu tanzen zur Musik des Donners. Auch wenn Senja wusste, dass ein Blitzeinschlag über ihnen den Eingang der Höhle verschütten konnte, fühlte sie sich nun sicher und geborgen und begann langsam zu begreifen, dass sie gerade diese furchtbare Brücke überquert hatte, die sie da vor sich sah.
Auf einmal meinte der Dengeluck: “Oy, gib mir mal deinen Kittel da, den langen, nutzlosen, hässlichen Menschenkittel da, jo, he!” Verwundert sah ihn Senja an, gab ihm aber ihren Umhang, der, da er nass war, sowieso nicht besonders gut wärmte. Der Dengeluck hiefte ihn hoch, grinste sie kurz an und verschwand in der Dunkelheit des Berges. Senja fragte sich, was er wohl vorhatte, doch schon nach kurzer Zeit war er wieder da und hatte offenbar etwas in den Stoff eingewickelt. In der Höhle schüttete er es aus und Senja sah, dass es Holz war, trockenes Holz. “Hey, Dengeluck, du bist ein Wunder!”, freute sie sich. “Oy, ey, die Senja weiß gar noch nicht, was für ein Wunder, hi, hihii! Holz und Hölzchen, Stein und Blitzchen, und dem Dengeluck sein Köpfchen, uiuioi, ... “ summte er vor sich hin, während er mit Senjas Hilfe das Holz für ein Lagerfeuer aufschichtete. “Und wie willst du das jetzt anzünden?” fragte Senja. “Oooh, nee, keine Ahnung hat sie, die Senja, von dem Dengeluck, von dem Genie, ui, hihii, dem Genie, ho, ha, hee, ...” sang er fröhlich weiter, nahm einen Ast und ging wieder in das Gewitter hinaus. Es dauerte nicht lange, bis er wieder da war und der Ast in seiner Hand trotz dem strömenden Regen mit einer hellen Flamme brannte. Er steckte den Ast unter die anderen, die schon bald Feuer fingen und mit lustigen Flammen die kleine Höhle wärmten. Senja fragte nicht, wie er den Ast zum Brennen gebracht hatte. Vielleicht hatte der Blitz in einen Busch eingeschlagen, der nun brannte. Auch wenn sie sich das aufgrund des Regens nur schwer vorstellen konnte. Es war ihr aber auch egal, sie war zufrieden damit, ein Feuer zu haben und war dem kleinen Wesen, das da vor sich hin summte, dankbar dafür. “So, na, und jetzt, he, wo kriegen wir jetzt was zu Essen her, he, Menschenkind, ha? Oder sollen wir vielleicht Steine essen, oder wie hat sie sich das gedacht, na, eh?” fragte der Dengeluck plötzlich. Senja wusste inzwischen dass er sie nur ärgern wollte und gab ausgelassen zurück: “Du bist hier der Begführer, he, ha! Ich möchte jetzt gerne einen Erdbeerkuchen, so wie den heute morgen, aber frisch bitte. Und vergiss bloß nicht den Vanillepudding unter den Erdbeeren, ohne den fange ich erst gar nicht an zu essen, ja, he?” Der Dengeluck lachte. “Wie, was, nur weil sie auf einer kleinen Brücke gehüpft ist, glaubt sie jetzt, sie könne Befehle geben oder wie, oder was, eh? Joo, hehe, nee nee Erdbeerkuchen gibts nicht, den kann sie sich aus dem Kopf schlagen, kann sie. Aber wenn sie ganz lieb ist, kriegt sie vielleicht was von Dengelucks Notreserven ab.” sprach er und präsentierte ihr breit grinsend ein Stück geräucherten Schinken, das er unter seinem Hemd hervorgezaubert hatte. Senja, die nun plötzlich ein großes Loch in ihrem Magen spürte, rief: “Oh, mögen alle Erdbeerkuchen des Landes deinen Essenstisch bevölkern! Na, zumindest wenn ich auch was davon abkriege. Her mit dem Schinken!” Und zusammen begannen sie, ihre Mägen mit köstlichem Schinken zu füllen.