viernes, 14 de septiembre de 2007

Kapitel 10

rgendwann stand Senja auf, nahm noch einmal einige tiefe Schlucke des erfrischenden Wassers und schlug dann die Richtung ein, aus der sie gekommen war. In ihrem Kopf hörte sie das Lied weiterhallen. Eine dunkle, rauchige Frauenstimme sang die Strophen, wieder und wieder. Senja bemitleidete die Entführte. Sie sah sie vor sich, eine schlanke, schöne Dame im Seidenkleid, wie sie in ihrem düsteren steinernen Turmverlies aus dem Fenster starrte und in verzweifelter Hoffnungslosigkeit den Horizont nach Rettung absuchte. Doch die einzigen Wesen waren die pechschwarzen Krähen, die die Festung umkreisten und mit heiserem Gekrächz ihre Hilflosigkeit verspotteten. Beim kleinsten Geräusch würde die junge Frau zusammenzucken und zitternd darauf warten, dass der grobschlächtige Bursche mit finsterem Gesicht in den Raum gestürmt kam, der sie ihren Lieben so gewaltsam entrissen hatte. Doch er würde nicht kommen. Er kam nie, genausowenig, wie die Retter am Horizont erschienen. Eine Frau mit mürrischem Gesicht und kratziger, grober Leinenkleidung würde ihr das Essen bringen. Doch sprechen würde sie nicht mit ihr. Sie sprach nie. Fragen perlten an ihr ab wie Wasser an gefettetem Leder, und geäußerte Bedürfnisse bewirkten eine kaum merkliche Neigung des Gesichts. An guten Tagen würde Senja eine mitleidige Grimasse auf dem kantigen Gesicht geschenkt bekommen…

Ein Ast schlug Senja ins Gesicht, doch dies war nicht der Grund, weshalb sie so aprupt stehenblieb. Wieso um alles in der Welt taten ihre Gedanken so, als sei es sie selbst, von der dieses Lied handelte??? Geschichten dieser Art gab es unzählige, jeder schlechte Barde kannte mindestens ein Dutzend davon! Sogar der alte Erwen hatte mal etwas in der Art gegrölt, als er es mit dem Met einmal wieder übertrieben hatte, daran erinnerte sie sich ganz genau! – Sie erinnerte sich? Woran erinnerte sie sich? Wer war Erwen? Was hatte er gegrölt? Das bärtige, grauhaarige Gesicht mit rot erhitzten Wangen, das sie eben noch mit blauen Augen angezwinkert hatte, verschwand so plötzlich aus ihrem inneren Blick, wie es gekommen war. Was es zurückließ, war ein Gefühl der Verwirrung. Langsam ging Senja weiter. Erwen… Barden… der Turm mit den Krähen… Hatte ihr die Phantasie einen Streich gespielt? Hatten Einsamkeit und der Hunger sie schon so weit gebracht, dass sie verrückt wurde und anfing, sich Dinge einzubilden? Kein Mensch mit seinem Verstand am rechten Ort sah runenschreibende Eichhörnchen oder glaubte an Narben, die durch einen Traum entstanden! Sie, Senja, gefangen in einem krähenumkreisten Turm? Wie absurd!

Du weißt gar nicht, ob du überhaupt Senja heißt. Du läufst durch die Wildnis mit nichts als einem Stück Pergament, auf dem eine wage formulierte Aufgabe steht. Und du fühlst dich als Retterin der Welt, nimmst diesen Zettel als Anlass, über gefährliche Felsen zu klettern, beinahe vom Blitz erschlagen oder von Krähen zerhackt zu werden und läufst mutterseelenalleine durch einen düsteren Wald, in dem du verhungern wirst, wenn dich nicht irgendwelche wilden Raubtiere vorher finden. Dabei weißt du weder, wer Landomar ist, noch, wo du ihn finden sollst. Und du findest die Vorstellung, in einem Verlies gefangen zu sein, absurd? Wenn das absurd ist, wie nennst du dann das, was du im Moment tust?

Senja hasste diese innere Stimme, die so penetrant immer recht haben musste. Was konnte sie denn dafür, dass alles so undurchschaubar war und niemand es für nötig befand, ihr etwas anderes als rätselhafte Hinweise zu geben – der geheimnisvolle Zettelschreiber nicht und der Dengeluck auch nicht. Hätte sie die Runen des Eichhörnchens lesen können, bestimmt wären es wieder irgendwelche geheimnisvollen Andeutungen gewesen. Diesen Erwen… sie hatte sein Gesicht so lebendig vor sich gesehen! Senja war sich sicher, dass zumindest er tatsächlich ein Mensch war, den sie kannte. Doch was half ihr diese Erinnerung? Ein alter Mann, der betrunken Lieder vor sich hin grölte… was hatte das mit ihrer Aufgabe und Landomar zu tun? Vermutlich ebenso wenig wie der feurige Himmelswagen. Aber er war ein weiteres Zeichen, dass ihr Gedächtnis nicht ganz verloren war. Aber was war mit der gefangenen Frau, von der ein Lied sprach? Sie hatte die rauen Felsquader der Turmwand, das spitz geschwungene Fenser und die glänzenden Federn der Krähen wie eine Erinnerung vor Augen gehabt. Und wenn sie an die mürrische Dienerin dachte, kam ihr deren herber Geruch nach Schweiß und billiger Seife in die Nase.

„Ich war gefangen“, sagte sie leise, um sich bewusst zu werden, was sie da dachte. „Aber wie bin ich entkommen?“ Die dumpfen Waldgeräusche gaben keine Antwort. Auch ihr Kopf fühlte sich auf einmal leer an, ausgelaugt. Es war wie jedes Mal, wenn sie bewusst versuchte, nach Erinnerungen zu greifen. Mit einem Seufzen gab sie es auf. Doch der kleine Hoffnungsschimmer in ihr war wieder ein wenig gewachsen.

Während sie versucht hatte, ihre Gedanken zu ordnen, war Senja beständig weitergegangen. Jetzt schaute sie sich um und bemerkte, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. War sie wirklich in die gleiche Richtung zurückgegangen? Bergauf lag der Weg – aber sie war doch schon ganz oben auf einem Hügel. Den Pfad sah sie jedoch nicht. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie begann zu rennen, kreuz und quer. Hier irgendwo musste er doch sein, vielleicht war er nur durch Büsche verborgen. Dort, an dem Baum war sie doch vorhin vorbeigekommen, bestimmt würde sie ihn dort finden – aber als sie ankam, war da kein Weg. Sie musste zurück zum Bach, und es erneut von dort versuchen. Doch in welche Richtung lag er? Beim Umherirren auf dem Hügel hatte sie jegliche Orientierung verloren. Nur nicht in Panik verfallen. Sie musste ganz ruhig nachdenken und schauen, von wo sie gekommen war. Waren dort nicht ganz viele Äste geknickt und das Laub aufgewirbelt? Vielleicht war sie von dort gekommen. Etwas tun war besser, als stehenzubleiben und so ging Senja in einer Richtung den Hügel hinunter, kämpfte sich abermals durch Büsche und tief hängende Äste, blieb an Dornen hängen und zerkratzte sich die Arme an den Nadeln. Doch schon bevor sie ganz unten angekommen war, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Vor ihr breitete sich ein schlammig-schmutziger Tümpel aus. Der modrige Waldgeruch schien sich zu ihm hin zu verdichten. Süßlicher Fäulnisgeruch legte sich auf Senjas Lungen und beschwerte das Atmen. Von einem plötzlichen unerklärlichen Grauen erfüllt drehte sie sich um und hetzte zurück, den Berg hinauf, weg von dem Wasser, in dessen schwarze Tiefen düstere Gefahren lauerten! Senja rannte, bis jeder Atemzug einen stechenden Schmerz in der Brust verursachte und die Beine unter ihrem Körper vor Schwäche wegzuknicken drohten. Entkräftet ließ sie sich auf einen umgestürzen Baumstamm sinken und rang nach Luft. Mit geschlossenen Augen lauschte sie ihrem rasenden Herzschlag, der sich nur langsam beruhigte. Ihr war nun schon richtig übel vor Hunger. Doch ihr fehlte die Kraft, sich etwas zu überlegen. Ihr fehlte sogar die Kraft, noch Angst zu haben. Sie saß einfach nur da, inmitten eines grünen Labyrints, und dachte nichts.

Sie spürte etwas Weiches an ihrer Hand. Etwas Weiches und Warmes. Es schmiegte sich daran, mit einem leichten Zittern. Dann etwas Rauhes, Feuchtes. Es kitzelte ein wenig in ihrer Handfläche. Eher unbeteiligt als neugierig öffnete Senja die Augen. Zwei schwarze, glänzende Knopfaugen schauten aus ihrer Handfläche zurück. „Da bist du ja wieder.“, murmelte Senja zu dem kleinen Eichhörnchen. „Siehst du, ich bin weitergegangen. Du bist ein besserer Waldbewohner als ich. Hast mich gefunden, obwohl ich den Weg verloren habe… Aber Angst habe ich keine, wie ich dir gesagt habe. Doch was willst du hier bei mir? Wozu hast du mich gesucht? Was zu essen kannst du mir ja doch nicht bringen. Und ich bin zu schwach, um nochmal aufzustehen. Das war’s dann wohl. Landomar muss alleine schauen, wie er zurecht kommt. Ich kann ihm nicht mehr helfen.“ Die schwarzen Augen schauten unverändert. Nur der lange, buschige Schwanz des Eichhörnchens strich langsam über Senjas Arm, hin und her. Das Gefühl war angenehm, als würde eine wohlige Wärme von dem Punkt ausgehen, an dem das Tier sie berührte. Wie Energie floß sie durch Senjas Glieder und auf einmal schien es ihr nicht mehr ganz so unmöglich, noch einmal weiterzugehen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, war sie aufgestanden, während das Eichhörnchen mit einem behenden Sprung vor ihr auf dem Boden landete. Die Fellbüschel an seinen Ohren zuckten aufgeregt und es begann, vor Senja über den bemoosten Boden zu huschen. Wie in Trance trottete diese hinter dem Tier her. Warum sie das tat, wusste sie nicht. Doch es schien genausowenig Sinn zu haben, auf dem Baumstamm sitzen zu bleiben. Offensichtlich hatte dieses braune Wesen etwas mit ihr vor und wollte sie irgendwo hinführen. Immer wieder vergewisserte es sich mit einem Blick seiner schwarzen Knopfaugen, dass Senja ihm noch folgte. Weshalb das Tier sie nicht schon am Morgen wohin auch immer geleitet hatte, wußte Senja nicht. Sie rätselte auch nicht weiter darüber. Denn das war nur ein weiteres Detail in einer Reihe unerklärlicher Vorkommnisse – und wahrscheinlich würde sie es nie erfahren.

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